Auf dem Weg in neue Höhen
Die Heinz-Bosl-Stiftung mit ihren Herbstmatinéen im Nationaltheater
Eine Glocke ertönt. Sie ist klein und golden und hängt über der Türe, die in den Bühnenraum des HochX-Theaters führt. Ihr Klang läutet den Beginn der Performance ein: Das Publikum betritt den hell ausgeleuchteten Saal, die vier Performenden stehen schon auf der Bühne, dicht beieinander. Mit geschlossenen Augen schwanken sie leicht hin und her, wie von einem Wind bewegt, den nur sie spüren, sie stimmen sich mit ihrer Umgebung ein. Die Bewegungen werden größer und intensiver, es scheint, als würden sich die Körper mit Energie füllen, sich aufladen mit etwas, das gleich wieder aus Ihnen hinausrauschen wird. Dann scheint ein Windstoß sie auseinanderzutreiben, Jihun Choi bleibt allein in der Mitte des Raums zurück. Mit fließenden, fast zeichnenden Bewegungen formt er den Raum und ebnet den Weg für die sich nun entfaltende Performance.
„Nebel, der auf dem fernen Meer wie Land erscheint“
Der Tanz ist eine sprach-lose Kunst. Das trifft natürlich nicht auf alle Performances gleichermaßen zu, auf MUJE von ZINADA allerdings sehr. Passenderweise heißt das koreanische Wort MUJE übersetzt „Gedicht ohne Titel“ oder „Nebel, der auf dem fernen Meer wie Land erscheint“. Die erfahrbar gemachte Dichotomie, dass sich etwas direkt vor den eigenen Augen abspielt und trotzdem ungreifbar bleibt, ist also Programm. Was für eine wunderbare Herausforderung, sich trotzdem daran zu versuchen, das Gesehene in Worte zu fassen.
Licht und Ton materialisieren sich auf eigene Weise
MUJE ist in seiner Struktur von Jazz-Improvisation inspiriert, und so ist es konsequent, wie ausgeglichen die vier Akteur*innen die Performance mitgestalten. Das Lichtdesign von Dennis Dita Kopp und das Sounddesign von Shin Hye Jung dürfen genauso Raum einnehmen wie die Bewegungen von Jin Lee und Jihun Choi. Da Jung und Kopp am Anfang und am Ende auch selbst mittanzen, sind die Grenzen ohnehin verwischt – Licht und Ton materialisieren sich aber auch auf ihre eigene Weise. Zum Beispiel im „Licht-Solo“, welches mit unterschiedlichen Spots den Raum verdichtet und expandieren lässt und durch Stroboskoplicht mit der Wahrnehmung der Zuschauenden spielt. Oder durch die beiden traditionellen südkoreanischen Blasinstrumente Piri und Taepyeongso, deren Klang mal sanft den Raum füllt, aber auch scharf, schneidend und laut anschwellt. Das ist an der Grenze zum Unangenehmen, gräbt sich unter die Haut, lässt die Haare zu Berge stehen. Licht und Ton so körperlich spürbar zu machen, hat einen mitreißenden Effekt.
Ein Spiel aus Harmonie und Dissonanz
Wie die Instrumente einer Jazzband haben alle vier Performenden eine eigene Stimme, die sich in verschiedenen Soli entfalten und zeigen darf. Und dann treten sie in Kommunikation: zwei verschiedene Bewegungsqualitäten treffen aufeinander, gehen in Resonanz und werden zu einem Duett; Ein Lichtkegel verändert sich, unterbricht die eine Bewegungsqualität und zeichnet gleichzeitig die nächste voraus; Ein neues Musikinstrument erklingt und setzt die Bewegung in einen neuen Kontext. Die Qualität des Miteinanders auf der Bühne wird befragt, es entsteht ein Spiel aus Harmonie und Dissonanz. Ist nicht ein Vielklang aus eigenständigen Stimmen das, was eine Harmonie ausmacht? Viel eher als Synchronität? Gehört Dissonanz nicht unabdingbar dazu zum Miteinandersein?
Verkörperung + Zeitlichkeit = Präsenz
Die Zeitlichkeit ist in diesem Stück besonders: Vor allem in der Präsenz der Performenden. Jede*r Einzelne von Ihnen ist so vollkommen und bedingungslos in der Verkörperung, dass sich die Momente ausdehnen können. So werden Details sichtbar und brennen sich ins Gedächtnis: das blaue Dreieck aus Licht am Boden, die Anspannung im Kiefer der Tänzerin, der gehobene Zeigefinger, das Geräusch von Regen. Bewegungen in Zeitlupe wechseln sich ab mit sehr energetischen Momenten. Vor allem durch diese Zeitlichkeit, aber auch durch die verwendeten Instrumente und die Bewegungsqualität bekommt MUJE auch einen rituellen Charakter. Es wird spürbar, dass die tiefe Erforschung des Phänomens Performance ein Leitthema in der Arbeit von ZINADA ist.
Großzügige Performativität
MUJE ist in seiner Performativität sehr großzügig, einladend. Es hat nichts mit einer Selbstinszenierung zu tun, sondern möchte etwas hereinlassen, dass größer ist als das. Dieses Größere, Unbekannte und Uneindeutige ist sehr präsent in dem Stück und genau das, was MUJE zu einem sprach-losen Stück macht. Das erzeugt auch teilweise unheimliche Momente, weil man nicht verstehen kann, was passiert, es gibt keinen Handlungsstrang. Es ist für jede*n Zuschauer*in eine individuelle Erfahrung, auf die man sich einlassen kann oder nicht, die einen bewegen kann oder nicht.
Ein Freudentanz
Gleichzeitig durchzieht auch eine leichte und humorvolle Qualität das Stück: diese findet zum Ende hin ihren Höhepunkt, als alle vier Performenden eine gemeinsame Choreografie tanzen. Auch hier erinnert MUJE an ein Ritual, denn es wirkt wie ein Freudentanz, eine Feier, sie tanzen die gleichen Schritte, ohne dass die Choreografie aufdringlich oder zu sakral wird. Das letzte Wort hat aber das Licht: wie in einer Art Epilog streift ein einzelner Scheinwerfer durch den Raum, über Wände und Füße, bis er schließlich wieder an der Glocke über der Tür hängen bleibt: so wird dem Publikum freundlich der Weg gewiesen, aus dem soeben Erlebten wieder hinauszufinden.
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