„Everything That’s Wrong with Me“ von Jasmine Ellis. Tanz: Bea Bidault

Der Halloween-Effekt in uns allen

Jamine Ellis’ „Everything that’s Wrong with Me” im Münchner HochX

Große Wirkung auf kleinstem Raum entfaltet die neue Tanzproduktion der Münchner Choreografin.

München, 04/11/2024

Wohin der Weg inhaltlich gehen soll, bleibt anfangs unklar. Angesichts der Jahreszeit schleicht sich die bis zum Ende nicht ganz abwegige Idee einer verspäteten Halloween-Party ein. Aber halt: Anzeichen für populär-schräge Hollywood-Auswüchse gibt es nicht. Stattdessen weckt das Stück Assoziationen – an alte keltische Mythen, bei denen Geister die Sterblichen ins Jenseits ziehen konnten.

Themen wie Isolation oder Einsamkeit hatte die Münchner Choreografin mit kanadischen Wurzeln schon wiederholt aufgegriffen. Nun aber hinterfragt Ellis das Phänomen persönlicher Verletzlichkeit und punktet mit einem Ensemble, das Tanz/Moves und Sound/Liedtexte eng miteinander verschränkt und sich wiederholt aus solistischen Momenten heraus zu bildstarken, choreografisch wie musikalisch sinnstiftenden Tableaus vereint. Umgeben von einem geisterhaft schummrigen Ambiente macht man sich im Team auf die Suche nach den Schnittstellen zwischen Identität und Kreativität.

Ungefähr zur Halbzeit illustriert Ellis genau dies in einem bewegenden Männerduett, das sich zu einer gepfiffenen Melodie aus einer freundschaftlich-innigen Umarmung heraus entspinnt. Wenig später fliegen die zwei Tänzer dicht hintereinander mit seitlich ausgebreiteten Armen quasi durch den Raum. Schleichend aber kippt die harmonische Zärtlichkeit ihres Sich-Haltens und gemeinschaftlichen Fühlens um in eine Art bedrängende Aggression. Die beiden Akteure geraten in einen Kampf. Der vordere will den sich immer heftiger an ihn klammernden Hintermann abschütteln. Es ist ein Ringen, Zerren und Herumwuchten. Doch keiner unterliegt. Das Duell endet Kopf an Kopf am Boden liegend.

Mit Bea Bidault, Luca Cacitti, Heinrich Charles, Alex Clair, Kim Kohlmann und Jacob Thoman hat Jasmine Ellis eine ausdrucksvolle und technisch beeindruckende Tänzer*innenriege versammelt. Für Komposition und Musik zeichnen sich Olicía, Anna-Lucia Rupp, Fama M’Boup und Lukas Bamesreiter verantwortlich – immer mittendrin im Geschehen, das sie verbal befeuern. Schön ist, dass innerhalb der einstündigen Aufführung keine Seite zu übermächtig wird. Stets findet Ellis Wege für plausible Verschränkungen und in allen noch so physischen Erkundungstouren übers Plateau Möglichkeiten, ihre unterschiedlichen Interpreten schlüssig interagieren zu lassen.

Am drastischsten herausgearbeitet erlebt man das vielleicht in jener Szene, die die Sängerin Anna-Lucia wiederholt „bring me peace“ singend vorantreibt. Standhaft hält sie durch, während alle anderen sie nach und nach mit schier empathischem Furor bestürmen. Immer mehr Leute kleben an ihr. Sie wird von der Masse überrollt und ihre Stimme unter einem Berg ineinander verknoteter Leiber erstickt. Zu verschwinden und wieder aufzutauchen sind Effekte, mit denen Ellis hier – dank unkompliziert aufs Stichwort lösbarer Tuch-Ausstattung (Bühne: Nanako Oizumi, Kostüme: Sarah Kaldewey) – mehrmals clever spielt.

Auf dunkler Bühne unter einer Art Zeltplane im Hintergrund drängen sich anfangs bloß schemenhaft erkennbar die Protagonist*innen. Von der Decke herab hängen wolkig gebauscht durchscheinend dünne weiße Stoffplanen. Lange Kapuzenumhänge sind an der Rückwand zu erkennen und werden bereits von einzelnen Tänzer*innen getragen. Langsam zu summenden Klängen der Live-Band, die sich immer stärker in die Performance einbringt, beginnen ihre Körper zu schwingen. Unter dem Podium schwappt eine erste bodennahe Welle Trockeneis-Nebel Richtung Publikum. „We are the dreamers of our lives“ lautet Lukas Bamesreiters erste für diesen Abend geschriebene Liedzeile. Danach erobert das Tanzkollektiv individuell impulsiv allmählich die freie Fläche im Vordergrund für sich, wobei ihr Augenmerk zu Beginn allein auf das Musikertrio gerichtet ist. Das Publikum als Adressat für eine Arbeit, die laut Programmzettel „das Verständnis von Normalität und Abweichung neu definiert“, rückt erst allmählich in den Mittelpunkt der wie ein Konzert mit eingeschworener Fangemeinde inszenierten Show.

Wenn am Ende die Tänzer*innen als Gruppe gestaffelt in Slow Motion über die Bühne kriechen, drehen die Sänger*innen ihre Lautstärke-Regler voll auf. Hier und da schnellen emotional aufgepeitschte Solos empor. Wind rauscht durch die Dekoration. Mit ihm erschlafft die akustische und motorische Klimax. Doch eine leise, leicht esoterisch-kitschige Überraschung hat „Everything that’s Wrong with Me“ noch parat...

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