Gedicht ohne Titel
Premiere von MUJE von ZINADA im Münchner HochX
„WUW – Wind und Wand“ des Duos Zinada untersucht tänzerisch pubertäre Gemütszustände
Wäre es doch immer so einfach, Luft gegen Zwänge abzulassen und sich wider nervende Argumente auszutoben. Aber nicht jeder ist körperlich so auf Zack und in alle Richtungen biegsam wie Jin Lee. Ihr Tanzen elektrisiert. Cool fixiert sie das Publikum. Lässig zieht ihr Zeigefinger an einem ihrer Mundwinkel. Gleichzeitig streckt sie das Kinn und ihren Bauch der Decke entgegen. Um sinnbildlich gegen die Wand zu rennen oder aus der Haut zu fahren, genügt dieser famosen Interpretin ein formal schlichtes Solo. Es scheint aus explosiven Launen des Augenblicks heraus direkt vor den Augen der Zuschauer*innen zu entstehen.
Als später eine weitere Person hinzukommt, deren Gesicht komplett verhüllt bleibt, bindet Lee die unerwartete Begegnung mit ihrem Partner Jihun Choi in eine handlungsfrei abenteuerliche Reise ein. Und die führt in „WUW – Wind und Wand“ quer durch unterschiedlichste Gemütszustände, über imaginäre Abgründe und Wände, die es zu erklimmen gilt. Lee und Choi interagieren dabei immer gewagter und akrobatischer. Denn stellvertretend für Mauern, die im Leben überwunden werden müssen, beginnt sich irgendwann eine comicartig-bunt bezogene große Turnmatte mit ins Bild zu drängen. Das Requisit ist vollgekritzelt mit Sprüchen, einschlägigen Symbolen und freizeittauglichen Objekten. Es verschmilzt mit Choi, der darauf oder dahinter in seinem blau-schwarzen Ganzkörperanzug kaum auffällt. Lange verharrt diese Matte unbeachtet im Hintergrund. Plötzlich stellt sie sich dann – wie von Zauberhand – auf.
Choi übernimmt in „WUW“ den standfesten, ruhigeren, unpersönlichen Part. Lee hingegen wird auf der Bühne einmal mehr zum dynamischen Powerpaket. Im Vergleich zu ihrem starken Partner Jihun Choi wirkt sie zart, ja fast zerbrechlich. Nicht so ihre Aura. Oft reichen ihr kleine Gesten oder eine Grimasse aus, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu fesseln. Sie vermag schier mühelos mit der Schwerkraft zu spielen, das Oben in ein Unten zu verkehren oder in null Komma nichts nach einer längeren Passage des Innehaltens oder zeitlupenhaften Ganz-Bei-Sich-Seins ihren Bewegungsduktus wieder kraftvoll auf 100% Speed zu beschleunigen und in pure Energetik zu verwandeln.
Jin Lee beherrscht die gesamte Klaviatur von Gefühlsübergängen wie aus dem Effeff. Und wie im richtigen Leben liegt zwischen einem Himmelhoch-Jauchzen und sich Grämen manchmal nur ein Wimpernschlag. Das kommt beim Publikum direkt an – egal, ob Kinder oder Erwachsene zusehen. Zuletzt konnte man die unglaubliche Ausstrahlungsqualität und subtile Präsenz des Dazwischen in einem inhaltlich völlig anderen Kontext in „Muje“ beobachten – der jüngsten abendfüllenden Kreation des Choreografen-Duos Zinada (Jin Lee & Jihun Choi). Premiere war hier am 9. Januar im Münchner HochX. Nur einige Tage später traten Lee und Choi erneut am selben Ort auf. Diesmal mit „WUW – Wind und Wand“: ihrem allerersten Kinder- und Jugendstück, das das charismatische Tänzerpaar im Oktober 2024 als Pop-Up-Produktion für Schulen entwickelt hatte. Auftraggeber war das national erfolgreiche und im vergangenen Jahr mit dem Deutschen Tanzpreis ausgezeichnete Netzwerk für junges Publikum, „explore dance“.
Thematisch geht es in der 40-minütigen Tanzperformance um Momente von Anspannung, ums Loslassen und Sich-auf-Neues-Einlassen, um ein Hin- und Hergerissen-Werden ohne klar definierbaren Grund. Und es geht um Erfahrungen, die letztlich dazu führen, sich selbst zu finden. Elementare Zustände des Ichs prallen – so will es der Titel – aufeinander, wie wenn Wind auf eine Wand stößt. Mal geht es dabei laut und stürmisch, mal ganz sanft und leise zu (Musik: Benny Omerzell). Auf rein physische Art und Weise soll die ambivalente Beziehung zwischen Kindern und ihren Eltern in einer Zeit des Übergangs – der Pubertät – widergespielt werden.
Ihr Bewegungsmaterial, das sich problemlos mit dem ihrer anderen Arbeiten messen lassen kann, haben Lee und Choi während der Proben- und Entwicklungsphase des Stücks anhand von Gesprächen über familiäre Klüfte, komplexe Gefühlswelten und in Workshops mit Schüler*innen erarbeitet. Ob nun in einer Schulturnhalle oder einem Theatersaal: „WUW“ ist leicht dechiffrierbar. Emotional geladen mit flatterigen Händen hastet Jin Lee auf die Bühne. Ein orangefarbener Overall lässt ihre schlanke Figur wuchtiger und in Verbindung mit den jeweils passenden Moves sporadisch auch maskuliner erscheinen. Mit kraftvollen Schritten, hin und wieder sich ballenden Fäusten, die ihren Armen impulsiv Schwung verleihen, und federnden Knien durchmisst sie einen vermeintlich leeren Raum.
Trotz funkelt in ihrem Gesicht. Sie scheint aufgebracht und steigert sich subtil in ein einsames Spiel gegen die Tücken des Erwachsenwerdens mit Hilfe von Stimmungen, die regelmäßig abrupt kippen. Plötzlich ergreift ihren Körper Heiterkeit. Jede ihrer Bewegungen signalisiert, dass sie nun „Bock auf Spaß“ hat: Rennen, Stampfen, sich auf den Rücken werfen, die Ellbogen und Hüften zum Rhythmus der Musik zucken lassen, Luftboxen, den Boden mit Schlägen traktieren, fordernd oder prüfend Blickkontakt mit dem Publikum aufnehmen, lächeln, unvermittelt herumrollen, mit erhobenen Siegerhänden Eindruck schinden: Alles macht Lee zum Ventil für den emotionalen Stau in ihrem Inneren. Nur gegen die Mauer kann ihr Toben alleine nichts ausrichten.
Nicht ganz Halbzeit ist in „WUW“ der Zeitpunkt für Veränderung. In den Fokus rückt nun die sperrige, wild bemalte Matte. Und damit darf auch Jihun Choi sich endlich aus seiner passiven Starrheit lösen. Anfangs findet er 1000 neue Varianten, seiner Partnerin den Kontakt zu verweigern, indem er die luftgefüllte Matratze herumwuchtet und sie Lee rabiat in den Weg stellt. Weil Lee aber nicht aufgibt, entweder ausweicht oder selbst Hand an die eigens angebrachten Griffe legt, entspinnt sich daraus schnell ein Trio mit katapultartigen Effekten, das in einem furiosen Duett zwischen Lee (Wind) und Choi (Wand) kulminiert.
Zu Beginn von Level drei des Stücks ist Choi verschwunden, Lee wieder allein. Bald darauf funktionieren die beiden die Matte zum Raumteiler um – mit Choi auf der einen, Lee auf der anderen Seite. Es ist ein Stadium des Übergangs, bevor die zwei Tänzer allmählich zusammen und zu teamfähiger Gemeinschaft finden. So können sie – schön anschaulich – verhindern, dass ihre mobile Wand einen Teil des Publikums in der ersten Reihe unter sich begräbt. Je näher das Ende der Performance rückt, desto mehr Positivität strahlt das Tandem aus. Sich gegenseitig stützen, schützen und miteinander gangbare Strategien aushandeln, wird Teil einer lustigen Turnerei. Noch einmal steigern Lee und Choi das Tempo im Umgang mit ihrer Wand, lassen diese in scharfen Kurven kontrolliert an Füßen des Publikums vorbeiflitzen. Dann wenden sie sich von den Zuschauer*innen ab und geben Hand in Hand der malträtierten Barriere einen finalen Stups. Gut so!
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