Wilde Emotionen auf dem Prüfstein
„WUW – Wind und Wand“ des Duos Zinada untersucht tänzerisch pubertäre Gemütszustände
Es ist einer dieser Abende, an denen es um so viel mehr als nur eine Aufführung geht. Sicher, im Zentrum steht das Re-Staging von „Heimat...los!“, Ceren Orans erster choreografischer Arbeit in München. Es geht aber auch um das Kennenlernen spannender Künstlerpersönlichkeiten, darum einen Raum zu schaffen, in dem sich über die Erfahrungen als migrantische*r Künstler*in ausgetauscht werden kann. Und nicht zuletzt geht es darum, eine Choreografin zu feiern, die die Münchner freie Tanzszene in den letzten Jahren wie kaum eine andere Person menschlich und künstlerisch bereichert hat.
Gerührt versinkt Ceren Oran ein wenig in ihrem Stuhl als der Moderator der Gesprächsrunde „Dance & Migration“, Tuncay Acar, auf die gerade bekannt gewordene Nominierung der Choreografin für den renommierten FAUST-Preis als beste Regisseurin für Kinder- und Jugendtheater zu sprechen kommt. Trotz des langanhaltenden an sie gerichteten Jubels und Applauses vergisst es die überaus bescheidene Oran nie, ihre künstlerischen Erfolge als Leistungen eines künstlerischen Teams zu verbuchen – überschwänglich bedankt sie sich deshalb bei ihren Kolleg*innen, die an der Entstehung von „Heimat...los!“ beteiligt waren. Ganz besonders dankt sie aber auch den Unterstützer*innen aus der Münchner Szene, ohne die die Uraufführung vor zehn Jahren niemals hätte stattfinden können.
Ohnehin weht in der Gesprächsrunde ein frischer Wind. Statt sich in diskursiven Thesen zu verheddern, werden die überaus spannenden Biografien vierer Künstler*innen nahbar beleuchtet. Neben Ceren Oran ist da Ibrahim Bajo, der als Musiker am Staatstheater Meiningen arbeitet und ausführt, wie schwierig es ist, Weltmusik und nicht dem westlichen Musikkanon zugehörige Instrumente im deutschen Theatersystem zu etablieren und als professionell anerkannt zu werden. Die als Choreografin und Wissenschaftlerin in München bekannte Sandra Chatterjee spricht darüber, wie sie - nachdem ihr als Person of Colour der Zugang zu einer professionellen Ballettausbildung verwehrt wurde - schließlich im klassischen indischen Tanz eine künstlerische Heimat fand. Und dann ist da noch Nihan Devecioglu, die mit ihrer markanten Weiterentwicklung von klassischem (westlichen) Gesang auch „Heimat...los!“ in hypnotische Klänge hüllt. Äußerst humorvoll erzählt sie, wie ihr türkische Lieder dabei halfen, ihre klassische Gesangstechnik während ihrer Ausbildung zu verbessern.
Alle vier sprechen sie darüber, wie sich der Bezug zur physischen Heimat über die Jahre für sie verändert hat. Istanbul, so Ceren Oran, fühle sich mittlerweile nicht mehr wie ihre Heimat an. Vielmehr verbirgt sie sich im künstlerischen Schaffen und den Kolleg*innen und Freund*innen, die einen dabei begleiten. „Menschen sind für mich meine Heimat“, sagt Ceren Oran. Und die Menschen, die an „Heimat...los!“ beteiligt waren, sind das, was sich jetzt 10 Jahre später als das Wertvollste an der Arbeit entpuppt.
Womit wir wieder beim künstlerischen Beitrag des Abends sind: Der Aufbau von „Heimat...los!“ ist denkbar einfach – drei Kapitel, in denen Tanz, Live-Illustration und Videoprojektionen miteinander verwoben werden. Auf der Projektionsfläche im Hintergrund erscheinen die Live-Zeichnungen von Anna Kohlweis – ursprünglich hatte diese Illustrationen Funda Gül Özcan entworfen. Zwischen eng bebauten Häuserfassaden entsteht eine Istanbuler Gasse, „durch“ die sich Ceren Oran davorstehend bewegt – zunächst ganz sanft und bei sich und traditionellen türkischen Tanzschritten folgend. Allmählich schleicht sich das von Trommeln und Tröten untermalte Rufen tausender Menschen auf einer Großdemonstration in die Soundspur. 2015, zur Zeit der Uraufführung von „Heimat...los!“, stand diese Szene ganz im Zeichen der landesweiten Proteste der Vorjahre, gegen die die türkische Polizei und Regierung Erdogans brutal vorgegangen war. 10 Jahre später wohnen Ceren Orans nun wesentlich kraftvolleren Schritten und der emporgehobenen Faust eine noch viel größere globale Dringlichkeit inne.
In Kapitel 2 kommt dann Nihan Devecioglu zum Einsatz. Während sie klar-resonierende und tief-raspelnde Töne elektronisch übereinanderlegt, schiebt Ceren Oran Erdhaufen hin und her, gräbt ihre Füße ein, ackert sich ab – die Bilder lassen Assoziationen an zermürbende Agrararbeit, eine symbolische „Beerdigung“ der alten Heimat oder auch die Vorstellung von Heimat als ein Stückchen Erde entstehen.
Kapitel 3 lässt schließlich die Ebenen kraftvoll verschwimmen. Zunächst erscheint die zehn Jahre jüngere Ceren Oran auf der Projektionsfläche. Auf einem Berggipfel stehend bewegt sie sich mit weich-kreisenden Armen. Dann das Bild eines deutschen Waldes, in dem plötzlich ein gigantischer, dasselbe Video abspielender Bildschirm steht. Dumpf-dröhnende Klänge erfüllen den Raum, im Horror-Stil wackelt die Kamera, der Waldboden vibriert, Erdbrocken tanzen. Bis schließlich die echte Ceren Oran wieder auf der Bühne erscheint, ihren Oberkörper in pulsierenden Bewegungen kreisen lässt. Wild gemixte Wortfetzen erklingen – „Bist du hier zuhause?“ –, während sich Oran nun unablässig um sich selbst dreht. Sie dreht sich, auch als das Video langsam abklingt und das Licht erlischt. Sie dreht und dreht und dreht sich – und steht auf einmal still.
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