Hörräume aufmachen, und zwar für alle
LISTENING-Kongress im Münchner Kreativquartier
Uraufführung von „Transfigured“ von Rykena/Jüngst im Rahmen des Münchner Rodeo Festivals
Ein Gurren, ein Keckern, ein rhythmisch-vibrierendes Buchstaben- und Silbenschnattern, das ganz allmählich verständliche Worte gebiert: Etwa in der gefühlten Mitte der neuen Arbeit von Rykena/Jüngst setzen die beiden Tänzerinnen das Prinzip der Verwandlung in Sprache um. Die Übertitelung beschreibt es so: „In ihren Körpern beginnen sich Laute zu formen“. Gemeint sind die Körper mythologischer Wesen, die uralt sind und deshalb alles gehört und gesehen haben. Oder die Körper von Lisa Rykena und Carolin Jüngst, die zeigen, wie er gewesen sein könnte: Der Übergang von tierischer zu menschlicher Sprache. Am Ende des Anfangs allen Lebens auf der Erde, oder am Anfang nach dem Ende, das uns durch die Klimakatastrophe droht? So richtig ist mir das nicht klar geworden, und vielleicht lässt „Transfigured“ auch mehrere Deutungsmöglichkeiten offen.
Jedenfalls sind die vielen Ebenen, auf denen dieser „vielsinnliche“ Tanzabend sich mitteilt, für eine sowohl hörende als auch sehende Zuschauerin ziemlich herausfordernd. Und das, obwohl das in Hamburg und München aktive Tänzerinnen- und Choreografinnen-Duo mit den verschiedensten Access-TechnikenErfahrung hat. Weder packen sie in dem Stück, das im Rahmen des Rodeo-Festivals im HochX Premiere hatte, alles, was sie auf der Bühne sprechen, in die Übertitel, noch übersetzt die integrierte Audiodeskription (AD) die Bewegungs- und Bildebene eins zu eins in die Lautsprache. Die Klecks-Gestalt der „leicht erhöhten metallenen Plattform“ zum Beispiel nicht, auf der und um die herum sich die beiden bewegen. Dafür erfährt man bereits die Farbe der Shirts, die sie unter sehr viel Tüll versteckt tragen und hört voraus, dass ihre Arme wabern werden, bevor die Augen es beglaubigen können. Damit hat das Hirn schwer zu tun und AD-Passagen wie „Die Musik um sie herum bewegt die Knochen“ oder „zieht Körper schlagartig in Posen“ versuchen zwar, über das rein technisch Beschreibende hinauszugehen und mögen für Blinde eine nützliche Hilfestellung sein. Für Sehende aber stellt sich die Frage: Wäre das wirklich mein zentraler Eindruck gewesen? Von welcher eigenen Wahrnehmung hat mich diese Information gerade abgehalten? Und was bitte, möchte ich die vielen vielsinnlichen Köche fragen, haben Infos wie „ein Popsong aus den 2000ern“ für einen Mehrwert für Taube oder überhaupt Irgendwen?
Es ist, wie bei allem, was neu ist, eine Sache der Gewöhnung. Die Senkung der Zugangsschwelle zur Kunst für Seh- und Hörbehinderte ist ja wichtig und die Arbeit an den Mitteln noch relativ jung. Womöglich ist es da verschmerzbar, dass sie die Wahrnehmung des tanztheatralen Gesamtereignisses von jenen manipulieren und fragmentieren, die sie nicht gebraucht hätten. Zu Ungunsten des unvoreingenommenen Staunens, das in Rykena/Jüngsts „Sense of Wonder“ schon im Titel steckte. Und wenn mich als Kritikerin sonst die vielen kleinen, unerwarteten Entdeckungen und langen, brüchigen Interpretationsschleifen im eigenen Kopf in Beschreibungsnöte bringen, ist es hier die partielle Überinformation. Aber in einer ganz anderen Sprache als meiner, was seltsamerweise auch meiner Erinnerung im Wege steht.
Was also habe ich erlebt und gesehen? Zwei zweifelsfrei tolle Performerinnen, die als Gestaltwandlerinnen den langen Schatten des Patriarchats auf zwei bis vier Füßen davonlaufen. Szenen mit Mischwesen wie Meerjungfrauen und Hybride zwischen Löwe und Insekt (oder hat da wieder die verbale Information die visuelle Wahrnehmung überlagert?) Ein typisches Rykena-Solo, in dem bewegungssprachlich mehr vom künftigen Maschinenmenschen steckt als vom westlichen kulturellen Erbe. Gehört habe ich von Wesen mit Flügeln und Schlangenarmen und Kassandras Warnungen an die unbelehrbare Menschheit. Nicht alles habe ich mit dem Gesehenen zusammenbekommen, viele Verbindungen zwischen den Szenen sind mir entgangen. Womöglich hat die Tatsache, dass bei dieser Relaxed Performance alle jederzeit rein- und rausgehen dürfen, auch eine Häppchendramaturgie befördert?
So regt „Transfigured“ vor allem zum Nachdenken über den Stand dessen an, was Rykena und Jüngst „futuristic storytelling“ nennen. Bis auf die Sache mit der knatternden, sich aus dem Rost der Jahrtausende freistotternden Silbensprache, die ist toll! Waren es die beiden Sphinxe in der Wüste, die sie als erste von sich gaben? Die AD verkündet eine „staubiger, trockener und wärmer werdende Atmosphäre“, die Lichtstimmung wechselt, die Tänzerinnen blicken sonnenverwirrt und irgendwo summt eine Fliege. Und da geht es los: „Weißt du nooooooooch?“ - „Jaaaaaaaa!“ Damals, in der Weißt-du-noch?-Zeit, fing die Geschichte an, von der die Mythologie erzählt. Von Göttern, Waffen, Kriegen. Die neue alte Sprache klingt, als weinten und lachten die Sprechenden gleichzeitig. Wie ein melodisch puckernder Strom, in dem auch Selbstanklagen schwimmen wie „Oh oh, wir waren giiiiierig“. Aber Frauen, Tänzerinnen insbesondere, können ja glücklicherweise alles sein.
Weitere Vorstellungen von „Transfigured“
5. bis 8. Dezember 2024 auf Kampnagel Hamburg
31. Januar und 1. Februar 2025 im brut Wien
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