Behutsame Wiederaufnahme
Bildgewalt in bizarr-abstrahierter Form
„Sense of Wonder“ von Carolin Jüngst und Lisa Rykena am HochX lädt das Münchner Publikum zum Staunen ein.
von Antonia Grahmann
Dichter Nebel verwehrt zunächst den klaren Blick auf den Bühnenraum. Doch nach und nach zeigt sich ein monumentales Objekt, das sich von der Decke auf den Boden windet. Im Laufe das Abends wird es zum Unterschlupf, zur Lichtquelle und zum unüberwindbaren Hindernis für die vier Teilnehmer*innen der Expedition auf der Suche nach dem Wunder. Auf ihrem Weg werden sie in unbekannte Tiefen fallen, sich in Zeitschleifen verfangen und durch bittere Kälte klettern. Bühnenbild und Licht (Lea Kissing und Mara Madeleine Pieler) werden hier zu aktiven Mitspieler*innen. Zwar wird der Raum wesentlich in der Vorstellungskraft des Publikums und der Performer*innen geformt, durch bühnentechnische Mittel gibt „Sense of Wonder“ den geträumten Welten jedoch auch physische Anker. Wenn also die Performer*innen erzählen, dass sie den Berg (das Gebilde) erklimmen wollen, dann wird nicht nur das Licht kühler, der Raum wird auch mit Trockeneisnebel geflutet und die Kälte des Wipfels wird deutlich spürbar. Dieser spielerische Umgang mit dem Raum trägt dazu bei, das Staunen der Darsteller*innen gegenüber der von ihnen erforschten Welt auf das Publikum zu übertragen.
Die Zukunft beschäftigt das Duo Jüngst/Rykena sowohl inhaltlich als auch formell. „Sense of Wonder“ lässt eine Welt zwischen postapokalyptischem Ödland und präindustriellem Garten Eden entstehen. Sowohl im Kostüm als auch in dem Konzept von verlangsamter und beschleunigter Zeit, arbeiten sie mit Ästhetiken und Ideen, die aus dem Science-Fiction-Genre bekannt sind. Die Umsetzung dieser Themen dagegen ist innovativ und weist den Weg zu einem neuen Theater, das inklusiver ist.
Inklusives Theater bedeutet bei „Sense of Wonder“ unter anderem eine Tastführung vor der Vorstellung, verschiedene Sitzmöglichkeiten und einen offenen Publikumsraum, der ein Gehen und Wiederkommen jederzeit ermöglicht.
Darüber hinaus sind inklusive Ideen aber auch aktiv in die Aufführung selbst eingearbeitet. Wesentlich beteiligt an diesem Prozess, die Inszenierung barrierefreier zu machen war Sophia Neises, die als Performerin, Access-Dramaturgin und Behindertenrechtsaktivistin 2023 mit der "Ehrung für herausragende Entwicklungen im Tanz" des Deutschen Tanzpreises ausgezeichnet worden ist. Gemeinsam mit ihr machen Jüngst/Rykena "Sense of Wonder" zugänglich für Personen mit Seheinschränkungen. So gibt es eine Off-Stimme, die langsam in die Situation und das Kommende einführt, vor allem aber werden die Bewegungen selbst hörbar. Die Kleidung der Performer*innen raschelt, die Schuhe quietschen und ab und an klackern die Karabinerhaken, mit denen sie einander Sicherheit garantieren. Der Tanz ist geprägt von ausdrucksstarken, ruckartigen Bewegungen, die die akustischen Möglichkeiten des Kostüms (designt von Mia Wittenhaus) ausspielen oder den Körper selbst zum Instrument machen. Zusätzlich setzen Sarah Lasaki, Andromeda Gervasio, Carolin Jüngst und Lisa Rykena auf der Bühne gerade in diesen besonders aufgeladenen Momenten ihre Stimmen ein und gestalten eine Geräuschfläche, die ihren Bewegungen entspricht: mal unisono und synchron, mal durcheinander und unübersichtlich. Das Zusammenspiel aus all diesen Elementen zu beobachten und ihm zu Lauschen, macht eine Zukunft von inklusiven Tanz- und Theaterformen nicht zu einer utopischen Wunschvorstellung, sondern lässt sie greifbar werden. Die Vielfältigkeit der Ideen, die „Sense of Wonder“ zugänglicher machen, erscheint parallel zur Entdeckungslust der kleinen Forschungsgruppe auf der Bühne. Statt Inklusion als notwendiges Übel zu verstehen, zeigt dieser Abend sie als Chance für neue Ästhetiken.
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