Herbst-Matinéen 2024: „Return to Innocence“ von Simon Adamson-de Luca. Tanz: Bayerisches Junior Ballett

Auf dem Weg in neue Höhen

Die Heinz-Bosl-Stiftung mit ihren Herbstmatinéen im Nationaltheater

Das „Bayerische Junior Ballett“ feiert seinen 15. Geburtstag, das Projekt „Ballett und Wildnis“ wird 20 Jahre – jung, das Requiem „Return to Innocence“ wird geboren und Raymonda und Jean de Brienne zelebrieren ihre Hochzeit in Ungarn. Kurzum: das Bayerische Junior Ballett München ist in Feierlaune – zu Recht.

München, 03/12/2024

Inzwischen gehört es zur besonderen Normalität, dass das Nationaltheater für die Herbstmatinéen der Heinz-Bosl-Stiftung seine Türen öffnet und das Volta-Ensemble (Musiker*innen der Münchner Musikhochschule) unter Mark Pogolski in bewährter, spritziger und wohlabgestimmter Manier die Tänzer*innen unterstützt – oder besser: inspiriert. Der Zeitpunkt der beiden Matinéen könnte nicht besser gewählt worden sein: Advent ist hier Programm. Das erste Türchen ist geöffnet – auch auf dem Weg in die tänzerische Professionalität. 

Dazu gehört der Konstanze-Vernon-Preis, den die derzeitige Solistin des „Het Nationale Ballett in Amsterdam“ Elisabeth Toney heuer entgegennehmen konnte. Elisabeth Toney ist Tochter ehemaliger Tänzer des Staatsballetts Berlin. Sie begann ihre Tanzausbildung in der Ballettschule ihrer Eltern, bevor sie ihre professionelle klassische Ausbildung an der Staatlichen Ballettschule in Berlin aufnahm. Nach Abschluss des Studiums verließ sie Berlin, um ihren eigenen Weg zu gehen. Der Weg führt sie nach Amsterdam. Wichtige, künstlerische Weggefährten waren Hans van Manen, David Dawson und William Forsythe. 

An diesem Vormittag zeigt sie mit dem Pas de Deux aus „Der Nussknacker“ ihr technisches und interpretatorisches Können, auch dank ihres hervorragenden Tanzpartners Constantine Allen. Seit 2015 wird der mit 10.000 Euro dotierte Preis als lebendiges Vermächtnis der Konstanze Vernon alle zwei Jahre an eine herausragende Tänzerin oder einen herausragenden Tänzer vergeben, die oder der am Beginn einer internationalen Karriere steht. Der diesjährigen Jury des Konstanze-Vernon-Preises 2024 gehören an: Christian Spuck (Intendant, Staatsballett Berlin), Ted Brandson (Künstlerischer Leiter, Niederländisches Nationalballett, Amsterdam), Mário Radačovský (Künstlerischer Leiter, Ballett NdB, Nationaltheater Brünn), Laurent Hilaire (Ballettdirektor, Bayerisches Staatsballett München) und Ivan Liška (Vorsitzender der Heinz-Bosl-Stiftung, Künstlerischer Leiter des Bayerischen Junior Balletts München). Sie alle sind von Elisabeth Tonevs Talent und ihrer künstlerischen Bandbreite begeistert und schätzen ihr vielfältiges Repertoire. Mit im Rennen für diese renommierte Auszeichnung waren noch 5 weitere Kandidat*innen, darunter António Casalinhó und Carolina Bastos (beide derzeit beim Bayerischen Staatsballett, Casalinho wurde dort gerade zum Ersten Solisten befördert). Vernon hat verfügt, dass das Preisgeld ihrem eigenen Nachlass entstammt, um kontinuierlich besondere Talente zu unterstützen. 

Während Elisabeth Tonev und ihr Tanzpartner Constantine Allen die Schwerkraft zu besiegen scheinen, so schweben auch schon die Jüngsten in neuen Höhen, wenn sie vor ausverkauftem Haus mit dem „Grand pas d’Hongrois“ aus „Raymonda“ das Publikum begeisterten und zum Teil zum ersten Mal im Programmheft namentlich erwähnt sind – ein besonderer Moment im Leben angehender Tänzer*innen. Mit einem Feuerwerk der Superlative im Bereich des klassischen Tanzes, dem „Grand pas d’hongrois“ aus „Raymonda“ sorgen die Student*innen für Furore und führen vor Augen, was es bedeutet, Präzision, Ausdruck, schnelle Beine, Gruppenformationen und -tänze, Pas de Deux, Hebungen und Raumästhetik unter einen Hut zu bringen, mit Leidenschaft und Ausdruckskraft, unabhängig vom Ausbildungsniveau. 

„Raymonda“ zeichnet sich durch technische Virtuosität, Ausdruck, Emotionen und Komplexität aus, Parameter, die für die künstlerische Entwicklung der Studierenden grundlegend sind. Elementen aus dem ungarischen Nationaltanz, geben dem klassischen Hochzeitstanz ein besonderes Lokalkolorit und eine jugendliche Frische, die weit über eine rein klassische Etüde hinaus geht. Im Einklang dazu steht auch die schlichte wie adäquate Bühnengestaltung mit einem hellleuchtenden Kronleuchter vor einem, sich wandelnden, einfarbigem Hintergrund.

Das Gegenstück, das in anderer Weise Präzision, Tempo und Gruppenästhetik den Tänzer*innnen abverlangt, trägt den Titel „Im Wald“. Dieses Werk, das den Gegenpol zum klassischen Ballett bildet, kann auf eine ganz eigene Tradition zurückblicken: Gefeiert wird das seit 20 Jahren bestehende Projekt „Ballett und Wildnis“ zwischen Ivan Liška und dem Bayerischen Umweltministerium. Das Ensemble erkundet die Natur, auch die eigene Natur, die ureigensten Instinkte. Natur und Kultur verbinden sich miteinander. Vor diesem Hintergrund sind auch die Ausflüge in den Bayerischen Wald zu verstehen, das Erleben von Nebel, von Geräuschen im Wald und nicht zuletzt auch die Abenteuer in Baumhäusern. Es sind Wanderungen, die der Inspiration dienen – ganz tatsächliche Wanderungen, aber auch Wanderungen in das eigene Ich. Es geht um das Aufspüren eigener Instinkte, was auch im Sinne des Choreografen Xing Peng Wang von „Im Wald“ ist. 

Ursprünglich hat Xing Peng Wang sein modernes Werk für Männer kreiert, was man der Choreografie auch anmerkt. Es dominieren hohe und komplexe Sprünge, Hebungen, athletische Kombinationen – Parameter also, die man eher im Repertoire des männlichen Bewegungskanons findet. Nichtsdestotrotz fühlen sich auch die Frauen gerade durch die Intensität der Musik, der Bewegungsabläufe und der eigenen Naturerlebnisse inspiriert, ebenfalls „Im Wald“ zu tanzen, was auch vom Choreografen goutiert wurde. Gern würde man einen Blick in die Köpfe der Tänzer*innen erhaschen, um noch genauer nachzuvollziehen, wie sie welche (Natur)-Bilder und Erlebnisse abgespeichert und in Bewegung des zeitgenössischen Tanzes umgewandelt haben. Das Publikum war beeindruckt vom Ergebnis dieser Reise in die Natur, in die Welt der Instinkte. 
Von immenser Tiefe, Struktur und Ausdruckskraft zeugt „Return to Innocence“, das man vielleicht als Requiem bezeichnen könnte, eines erst Neunzehnjährigen, der einen geliebten Menschen verloren hat und dieses sehr persönliche Trauererlebnis verarbeitet – aus der Sicht eines Tänzers und zugleich Beobachters. Simon Adamson-de Luca, der seit 2023 Mitglied der Junior Company ist, präsentiert hier auf Einladung von Ivan Liška (aus einem Pool von immerhin 400 Bewerbern) seinen ersten Auftrag als professioneller Choreograf für die Heinz-Bosl-Stiftung. Das durchstrukturierte Werk, das sich zwischen Klage, Trauer, Melancholie und der Darstellung des Paradieses im wahrsten Sinne bewegt, stellt ein Paar in den Mittelpunkt des Geschehens, das mal symbiotisch, mal innerlich zerrissen oder sehnsuchtsvoll agiert. 

Bemerkenswert ist der Aufbau des spannungs- und kontrastreichen Werkes mit Hebungen und atemberaubenden Wurfelementen, das immer wieder Beziehungen über den Tod hinaus entstehen lässt. Und so endet die Choreografie, wie sie auch begonnen hat: schreitend und kontemplativ – in sich schlüssig, was die Qualität dieses Werkes ausmacht und für Ovationen sorgt. Zwei Lieder der portugiesischen Musikgruppe Madredeus und der sechste Satz aus Thomas Adès „Arcadiana“ bilden das breite musikalische Spektrum von traditioneller, volkstümlicher bis hin zu moderner Fado-Form, was sich auch im Tanz, in der facettenreichen Bewegungssprache von wehmutsvoll bis klagend, auch hoffnungsvoll widerspiegelt. 

Mit Norbert Grafs Choreografie „Stück im alten Stil“, einer Hommage an das Erbe des Tanzes“, schließt die abwechslungsreiche, wie breitgefächerte Matinée. Mit diesem Werk lässt der Choreograf, der auch mit dem Titel „Bayerischer Kammertänzer“ ausgezeichnet wurde, seinen künstlerischen Weg noch einmal Revue passieren und erinnert an diejenigen Tänzerpersönlichkeiten, die ihn geprägt haben, als da wären Ohad Naharin, Mats Ek und William Forsythe. Von zentraler Bedeutung für Norbert Graf ist, dass das Werk in sich geschlossen ist, dass er alle Tänzer*innen auf der Bühne hat und eng mit dem Komponisten zusammenarbeitet, der die vielen Sounds und Klänge im Blick bzw. im Gehör hat, um sie dem Tanz anzupassen. Wie wenig Musik ‚nötig‘ ist, um maximale Spannung entstehen zu lassen, davon zeugt Grafs „Stück im alten Stil“, das in der Kostümierung farbliche Ockertöne bis hin zum Orange verwendet und den Kreis als Tanzform so aufgreift, was vielleicht Assoziationen an Matisses „Der Tanz“ weckt und neue wie alte Perspektiven öffnet – ein Anliegen, das der Heinz-Bosl-Stiftung ganz besonders am Herzen liegt.

Und um mit Konstanze Vernon zu enden: Viel Vergnügen.

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