Auf dem Weg in neue Höhen
Die Heinz-Bosl-Stiftung mit ihren Herbstmatinéen im Nationaltheater
Eins ist schon mal sicher: „HOLD ME“ ist kein „hold me?“, sondern eher ein „hold me!“. Das zeigt sich gleich in der ersten Szene: die beiden Performerinnen Veronika Tikhonova und Eva Julliere spielen mit viel Risiko, während sie sich übereinanderwerfen und gegenseitig wieder aufrichten, nur um im nächsten Moment wieder zu Boden zu gehen. Und trotzdem sind sie immer da und fangen sich auf in ihrer Verletzlichkeit, finden gemeinsam die Balance zwischen Stabilität und Instabilität, Risiko und Fürsorge. Immer weiter verknoten und verschränken sich die beiden Körper, bis sie scheinbar zu einem Wesen verschmelzen – und dann: cut, eine der Performerinnen steht auf, die andere bleibt allein zurück.
Diese fragmentarische Ästhetik mit harten Schnitten prägt das gesamte Stück. Die von Alina Belyagina und den Tänzerinnen kreierte Bewegungssprache wird so zu einer komplexen Collage aus verschiedenen Stilen und Qualitäten: akrobatische, raumgreifende und risikoreiche Bewegungen wechseln sich ab mit einer fast ferngesteuert wirkenden Bewegungsqualität, die an Videospiele denken lässt. „Shaking“ ist ein wiederkehrendes Motiv, sowohl im ganzen Körper als auch in Form von Twerking. Bruchstückhaft werden Referenzen zum House-Dance oder zum Clubbing aufgemacht.
Vielfältige Zerbrechlichkeit
„HOLD ME“ ist während des russischen Angriffskrieges in Belyaginas Heimatland Ukraine entstanden – dies ist wertvoll mitzudenken, da es die Thematik der Zerbrechlichkeit durchaus beeinflusst, die dem Stück zugrunde liegt. So hat diese Fragilität genauso eine monströse Seite, die in den Blick genommen wird, mit Stärke und Unabhängigkeit wird genauso gespielt wie mit Entfremdung. Optisch wird Zerbrechlichkeit auch von den Kostümen aufgegriffen: die Performerinnen sind anfangs noch oberkörperfrei, ziehen sich dann jedoch Oberteile an und wechseln ihre Kleidung während der Performance mehrmals. Sie zeigen mal mehr und mal weniger Haut und setzen ihre Körper dadurch auf verschiedene Arten der Verletzlichkeit aus. „You know, it‘s good to be fragile“ lautet das Fazit, das Eva Julliere etwa in der Hälfte des Stücks ausspricht – die Art, in der sich die Zerbrechlichkeit zeigt, ist jedoch vielfältig.
Ein zentraler Aspekt der Performance ist, wie meistens bei Belyagina, die Musik. Die von Nicolas Maximilian kreierte Klanglandschaft komplementiert und unterstützt den Tanz – es ist schlüssig, dass die Musik im Prozess als erstes entstand. Auch hier ist Belyaginas eklektische Ästhetik klar ersichtlich: eine atmosphärisches, spannungsvolles Sounddesign empfängt die Zuschauenden, wird jedoch immer mehr verzerrt und zerstückelt und arbeitet mit Einschüben von mechanisch klingenden Textfragmenten und schließlich auch Elementen von choraler Kirchenmusik. Auch Mikrofone spielen wie schon bei Belyaginas Debütförderungsstück „getting our wonders smashed“ eine Rolle, werden zum Schreien und Sprechen benutzt und erzeugen schrille Störgeräusche, als die Performenden sie an die Lautsprecher halten.
Cool, sexy und definitiv verrückt
Ein Höhepunkt des Stücks ist die Auflösung eines langen Spannungsbogens in eine rhythmische und Bass-lastige Sequenz, die die Tänzerinnen aufgreifen und in einer Choreografie von House-Dance widerspiegeln – dem einzigen Moment von Synchronität. Als die beiden Performerinnen dann beginnen, Runde um Runde in einem weiten Kreis durch den Raum zu laufen, springen, tanzen, erinnert das an einen futuristischen Hexentanz. Diese beiden Hexen sind cool, sexy und definitiv ein bisschen verrückt – und sie sind hier, um eine gute Show hinzulegen. Als eine der Performerinnen im Anschluss den Raum mit einer Nebelmaschine in weißen Rauch taucht, scheint das Ritual besiegelt zu sein.
Doch das ist es noch nicht ganz – mit technisch verzerrter Stimme wird das Publikum dazu aufgefordert, sich gemeinsam mit den Performerinnen in das Foyer zu begeben. Dort wird die für Belyagina typische, ganzheitliche Nutzung des Theaterraums noch einmal verdeutlicht: Schon im Bühnenraum wurden auch die Wände und die Traversen der Lichttechnik bespielt, im Foyer nun werden Pflanzen, Sofas und die Bar miteinbezogen – bis die beiden Performerinnen plötzlich durch eine der Türen verschwinden.
Ein Raum, in dem alles möglich sein könnte
Das Zusammenwirken von Körpern, Klang und Bewegungen erschafft in „HOLD ME“ eine faszinierende, unheimliche, aber auch witzige Atmosphäre, die trotz ihres Eklektizismus funktioniert. Durch die vielen Überraschungsmomente der Performance entsteht ein Raum, in dem alles möglich sein könnte. Die Öffnung des Bühnenraums am Ende ist eine dieser Überraschungen: sie kommt allerdings nicht ganz zum Tragen und das Stück verläuft sich etwas. Das abrupte Ende wiederum ist konsequent gewählt. Mit Julliere und Tikhonova hat Belyagina zwei starke Performerinnen, die das Stück mit Kraft und Präsenz verkörpern. Die Beziehung zwischen den beiden bleibt auf emotionaler Ebene uneindeutig, lässt so aber viel Platz für Projektion: sind sie Fremde, Freundinnen, Geliebte – oder Hexenschwestern?
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