„Getting our wonder smashed“ von Alina Belyagina, Tanz: Ensemble

„Getting our wonder smashed“ von Alina Belyagina, Tanz: Ensemble

Zwei Choreografinnen - zwei Handschriften – ein Ort

Debüts im Münchner schwere reiter

Die aus der Debütförderung des Kulturreferats entstandenen Stücke „skirts in fur, unwinding“ von Anima Henn und „getting our wonder smashed“ von Alina Belyagina lassen zwei ganz eigene Welten entstehen.

München, 18/06/2024

Von Leonie Stoeckle

Es spricht für die Tanzszene einer Stadt, wenn sich zwei so unterschiedliche Stücke aus einer Debütförderung entwickeln. Das fängt schon beim Einlass an: Bei „Skirts in fur, unwinding“ betritt man den Bühnenraum zu einem Stroboskop-Blitzlichtgewitter, während aus den Lautsprechern laute rhythmische Geräusche kommen, ein Zischen, Ziehen und Stampfen. Nebel liegt in der Luft. Wir schreiten durch ein Portal in eine andere Welt. „Getting our wonder smashed“ beginnt bereits, bevor der Bühnenraum betreten wird. Performer*in Saige Danyluk mischt sich wie ein Kobold unter die Zuschauenden, betrachtet mal von fern oder kommt ganz nah – als plötzlich Alina Belyagina, hinten auf einem Motorrad sitzend, mit wehender Fahne vorbeifährt. Sie begrüßt das Publikum persönlich, wodurch direkt eine Nähe aufgebaut wird, die für den Rest des Stücks anhält.

„Skirts in fur, unwinding“ baut dann vor unseren Augen eine Traumlandschaft auf: surrealistische Bilder entstehen, die Performenden verschmelzen zu neuartigen Wesen. Aus dem riesigen Rock einer Performerin wachsen vier Beine, zwei Körper fusionieren zu einer Art abstraktem Gewächs. Auch durch die Performativität scheinen die Tänzer*innen dieser Welt entrückt, sie spielen mit abgehackten Kopfbewegungen und bauen intensiven Augenkontakt auf. Alle Performer*innen verkörpern einen eigenen Charakter: „The mother of creatures“, Ilaria Bagarolo, lässt die anderen Kreaturen entstehen und bleibt danach wie träumend oder fantasierend im Hintergrund des Geschehens. Unter ihrem voluminösen Rock windet sich Chris-Pascal Englund Braun als „the dreamer“ hervor, selbst mit einem Rock bekleidet; diesen trägt er allerdings überkopf. Lea Markgraf und Michelle Sara Munoz vervollständigen den cast als „dream twins“, die in ihrer Bewegungssprache mühelos zwischen Absurdität, Unheimlichkeit und Komik changieren – wie das in Träumen oft so ist. 

Surrealistische Fashionshow

Das traumartige Gefühl und der Surrealismus wird unterstützt von den besonderen Kostümen, die Alexandra Paal und Anima Henn gefertigt haben: natürlich gibt es viele der im Titel versprochenen Röcke zu sehen, aber auch überdimensionale Hüte, blumenartiger Haarschmuck und schwarze, langhaarige Perücken lassen Proportionen verschwimmen und spielen mit der Wahrnehmung der Zuschauenden. So hat das Stück zeitweise etwas von einer surrealistischen Fashionshow, die wandelbaren und verwandelnden Kostüme erzeugen einen interessanten Überraschungseffekt. Die Farbigkeit des Lichts kreiert dazu mit dem Nebel eine mystische, traum-hafte Stimmung. 

Sehr präsent ist auch die von Daniel Door komponierte Musik. Ganz unterschiedliche Elemente von Chanson-Musik über eine abstrakte Geräuschkulisse bis hin zu lauten, rhythmischen Bässen gehen fließend ineinander über. Das unterstützt die Dramaturgie des Stücks, die nah an einem echten Traum ist: fast unbemerkt wechseln die Szenen, und plötzlich befindet man sich in einer gänzlich anderen Stimmung als zuvor: Was man sieht, ist mal skurril und unheimlich, mal poetisch, fragil, mal einprägsam und energetisch. Auch in „Getting our wonder smashed“ gestaltet Vlad Kistner den Raum mit seiner Soundperformance stark mit: am Anfang erklingt eine stechend laute E-Gitarre, dann elektronische Sounds in ganz verschiedenen Rhythmen bis hin zu sanftem, zartem Gesang. Die Musik ist ein Teil der Labor-Situation, die dieses Stück aufbaut – die einzelnen Akteur*innen treffen in verschiedenen Konstellationen aufeinander und erzeugen eine Reaktion. 

Die Zuschauenden sind ebenfalls explizit an dieser Versuchsanordnung beteiligt: Das Publikum sitzt an drei Seiten der Bühne und es gibt keine Frontale Ausrichtung im Stück. Die Bühne ist, anders als bei „Skirts in fur, unwinding“, nicht mit schwarzen Vorhängen ausgekleidet, sondern arbeitet mit den weißen Wänden des Raums. Immer wieder finden Aktionen auch hinter den Zuschauenden statt: Das Stück ist nicht darauf ausgelegt, dass alle alles sehen. Die Performenden Alexandra Korniejenko, Saige Danyluk, Asya Ashman und Eléonore Barbara Bovet arbeiten mit Improvisations-Scores und nur wenig mit festgelegtem, choreografischem Material. Alle haben eine eigene Bewegungssprache, nehmen den ganzen Raum ein, machen Handstände an den Wänden, kommen nah an die Zuschauenden, rollen ineinander verschlungen auf dem Boden und zitieren Bewegungen aus dem Waacking. 

Unvorhersehbare Fragilität

Im Raum hängt ein großes, rotes bemaltes Tuch, das im Laufe des Stücks immer wieder umgehängt, neu gefaltet und verknotet wird. Außerdem sind Mirkos verteilt, die von den Performenden teils genutzt werden, um zu singen, zu sprechen oder laut zu lachen, teils aber auch nur mit der Erwartungshaltung spielen, dass etwas hörbar sein wird. Generell spielt das Unvorhersehbare eine große Rolle und erzeugt eine spürbare Fragilität oder Porosität im Stück: Verbindungen und Aktionen entstehen und zerfallen im nächsten Augenblick, nichts ist von Dauer in dieser postapokalyptischen Atmosphäre. Wie Bruchstücke von Erinnerungen an etwas längst Vergangenes kommen Szenen an die Oberfläche. Es ist klar, dass wir gerade etwas miterleben, was in diesem Moment entsteht und sich schon im nächsten Moment verändern kann. Dadurch wird das Stück durchlässig und herausfordernd für Performende und Zuschauende. 

Es sind zwei im besten Sinne eigensinnige Stücke geworden: sie bleiben in ihrer Sprache und Arbeitsweise bei sich, verfolgen ihre Grundidee konsequent. Die choreografischen Handschiften von Anima Henn und Alina Belyagina sind klar lesbar und machen Lust auf mehr.

 

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