Auf dem Weg in neue Höhen
Die Heinz-Bosl-Stiftung mit ihren Herbstmatinéen im Nationaltheater
Es wirkt, als ob der Raum schon eine kleine Ewigkeit existiert hat, bevor das Publikum ihn betritt. Ein Kreis aus Stühlen und Kissen, in seiner Mitte ein etwa einen Meter über dem Boden schwebendes Gebilde, eine Wolke vielleicht? Ein Stein? Ein Ufo? Ein Klingeln und Rauschen ist zu hören, leise, wandernde Geräusche, sie bewegen sich von einer Ecke in die nächste. Und am Boden zwei ineinander verschlungene Körper, die Gesichter ruhig und ausdruckslos, wartend.
Ein Spiel aus Spannung und Weichheit
Eine Art Schöpfungsgeschichte möchte Stephan Herwig in seiner neuen Produktion erzählen und nennt sie konsequenterweise „BREATHER“: der Atem als das Grundsätzlichste einer organischen Lebensform. Mit seiner ersten Neuproduktion seit 2022 öffnet er einen Raum, in dem der Prozess zu hundert Prozent im Mittelpunkt stehen darf und sich genau die Zeit nimmt, die er braucht. Ganz langsam kommen die Körper der beiden Tänzer Fabian Riess und Alessandro Sollima in Bewegung, wie in Zeitlupe verflechten sie sich ineinander. Eine sich konstant verformende, skulpturale Bewegungsqualität, die immer neue Assoziationen entstehen lässt. Man meint Insekten oder Fabelwesen zu erkennen, Kreaturen mit acht Gliedmaßen. Verschmelzen koexistiert hierbei mit einem Recken und Strecken, Spannung und Weichheit sind gleichermaßen präsent. Dieser Gegensatz spiegelt sich auch in dem schwebenden Bühnenobjekt von Mirella Oestreicher wider: es scheint ein großes, silbrig glänzendes, Luftgefülltes Kissen zu sein, das durch Schnüre in einer abstrakten Form gehalten wird. In seiner klaren Präsenz fungiert es wie ein Dialogpartner für die Bewegungen der Tänzer. Es wirkt fast, als sei es die ursprüngliche Energiequelle und würde die Bewegungen mitverursachen.
Ein fluktuierender Schwebezustand
Auch der Sound prägt den entstehenden Erfahrungs-Raum stark mit und hat selbst eine Art Bewegungsqualität, da die Geräusche durch die an verschiedenen Stellen im Raum angebrachten Boxen wandern: so werden auch sie zu etwas Dreidimensionalem. Die von Ben Meerwein kreierte Musik überzeugt außerdem durch ihre gut gesetzten Pausen: immer wieder ist Luft, um einfach dem Atem der beiden Tänzer zu lauschen und den Geräuschen, die ihre Bewegungen erzeugen. Ansonsten meint man, in der Soundcollage tropfendes Wasser zu hören, oder Geräusche, die nach einem Flughafenterminal klingen. Das unterstreicht die Liminalität der Performance: das Stück ist ein fluktuierender Schwebezustand, ein Raum für Veränderung und Innovation.
The Struggle Is Real
In zwei Momenten schiebt sich die Musik mit ins Zentrum der Aufmerksamkeit: als die Tänzer nach langem „morphen“ in einer Umarmung aufeinandertreffen, schwillt die Musik an und ein lauter Bass ertönt, flatternd wie der Propeller eines Helikopters. Währenddessen fährt das silbrige Bühnenobjekt in die Höhe, öffnet eine neue Raumebene und deutet die folgende Bewegungsqualität voraus: Immer noch eng verschlungen versuchen die beiden Körper nun auf die Beine zu kommen. Es entsteht ein Ringen und ein ständiges Austarieren der Balance, ein Spiel aus Loslassen und Festhalten, Risiko und Unterstützung. Das ist nicht nur ein „so tun, als ob“, sondern eine ganz reale Anstrengung, die Atmung der Tänzer verändert sich, wird zu einem Keuchen. Arbeiten sie nun mit- oder gegeneinander? Das scheinen sie selbst herauszufinden, sie fordern sich heraus, fangen sich aber auch immer auf. Schließlich lösen sie sich voneinander und kommen zum Stehen, ganz dicht beisammen zwar, und doch sind sie nun das erste Mal als zwei eigenständige Körper wahrnehmbar.
Ein Ausschnitt aus einem fortlaufenden Prozess
Dann übernimmt ein zweites Mal die Musik: ein scharfer E-Gitarren Klang durchschneidet die Luft. Aus dem nichts scheint sich Ben Meerwein materialisiert zu haben. Seine raue und dreckige Spielweise auf der E-Gitarre kontrastiert die zarten Bewegungen der beiden Tänzer, die sich umkreisen, während sie sich an den Köpfen berühren, ziehen, leiten, auseinander und zusammengleiten. Dieses zärtliche Spiel führen sie fort, auch nachdem die E-Gitarre wieder verschwunden ist, und auch noch, während das Licht sich langsam verdunkelt. Das Gefühl vom Anfang bestätigt sich, nur einen Ausschnitt aus einem fortlaufenden Prozess zu sehen. So ist es verständlich, dass das Publikum im Dunkel eine Weile wartet, zusammen durchatmet, bevor das Klatschen die Tür zu diesem Universum wieder schließt.
Es ist stimmig, wie nah Herwig die Zuschauenden kommen lässt: so kann sich die sinnliche Erfahrung wirklich übertragen. Nähe ist generell die tragende Säule im Stück, metaphorisch könnte einem Platons Mythos von den Kugelmenschen in den Sinn kommen. „BREATHER“ lässt an einer ehrlichen Aushandlung von Nähe und Distanz, Einheit und Zweisamkeit teilhaben.
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