SINNLICHE ZEITKAPSEL
Ewa Dziarnowskas Long Durational Performance „This resting, patience“ verzaubert beim International DANCE Festival im schwere reiter
Von Lea Vosikova
Es ist dunkel. Nur zwei Spotlights durchbrechen die Szenerie. Die Atmosphäre ist gespannt, fast mystisch. Es ist der Auftakt zu „Radio Vinci Park“, einer Performance von Théo Mercier und François Chaignaud, die in der Alten Halle von Utopia zu erleben ist. Mercier, bildender Künstler, und Chaignaud, Tänzer und Sänger, arbeiten seit Jahren zusammen. In ihren Werken vereinen sie bildende Kunst, Tanz und Musik zu ungewöhnlichen Erfahrungsräumen. Ihre im Jahr 2016 uraufgeführte Arbeit gilt als Grenzgang zwischen Performance, Tanz und Installation.
Zwischen Stille und Spannung
Zunächst herrscht eine bedrückende Ruhe. Im Vorderbereich der Halle sitzt Marie-Pierre Brébant am Cembalo, umgeben von Rosen und Papierblättern, und spielt barocke Werke. Als das Licht sich dann auf den Motorradfahrer Cyril Bourny richtet, verschiebt sich die Aufmerksamkeit. Chaignaud betritt die Szene, zunächst verhüllt, fast anonym, dann zunehmend entblößt und verwundbar. Jede Bewegung ist präzise, der Körper spricht mit jeder Geste. Mit einem Summen beginnt er zu singen – erst zart, dann mit wachsender Intensität. Ein faszinierendes Wechselspiel aus Klang und Stille, aus Nähe und Distanz, beginnt.
Immer wieder wechselt die Performance zwischen aufgeladener Ruhe und eruptivem Ausbruch. Besonders eindrucksvoll ist Chaignauds tänzerische Präsenz: Die Bewegungen sind fließend, aber nie beruhigend. Das Umknicken der Füße in unangenehm hohen Highheels, das Rascheln des Gewands, das wiederholte, fast konfrontative „Hey!“ in Richtung Publikum nach Momenten der Stille – all das erzeugt eine permanente Spannung, ein Spiel mit Erwartung, Irritation und Verführung. Lachen blitzt gelegentlich im Zuschauerraum auf, nicht immer befreit, oft als Reaktion auf das körperlich Extreme, das Absurde und Groteske. Die Unsicherheit wird Teil der Choreografie. Chaignaud tanzt immer näher zum Motorrad, das scheinbar stumm alles beobachtet, bevor es sich schließlich doch regt, als hätte es die Kontrolle über die Bühne übernommen. Die erste Bewegung des Motorrads wird zur Choreografie, zur Drohung und Einladung. Chaignaud legt seine Hände auf den Lenker, zieht sich auf das Gefährt, klettert, posiert.
Was folgt, ist ein schillerndes Duell: Mensch gegen Maschine, Performer gegen Performance, Körper gegen Metall. Das Motorrad startet, die Scheinwerfer gehen an. Es beginnt im Kreis zu fahren, umkreist Chaignaud, kreischt, grollt, quietscht. Doch keine Angst ist in seinem Gesicht zu lesen. Im Gegenteil: Mit jeder Runde scheint sich der Performer dem Motorrad stärker hinzugeben. Es ist ein Kampf und eine Verschmelzung. Chaignaud hängt sich an das Motorrad, wird mitgezogen, schleift am Boden entlang, gibt sich dem Tempo hin – ganz dem Moment ausgeliefert. Es entsteht ein kraftvolles Bild der Ambivalenz: Anziehung und Bedrohung, Ekstase und Kontrollverlust, Nähe und Auflösung des Selbst.
Choreografie der Macht
Der Titel „Radio Vinci Park“ spielt auf die gleichnamige französische Autobahnbetreibergesellschaft an – ein Sinnbild für Mobilität, Infrastruktur und urbanen Transit. Mercier und Chaignaud verwandeln diese Funktionalität in eine psychogeografische Projektionsfläche. Der Bühnenboden erinnert an Asphalt, Lichtkegel an Scheinwerfer und Überwachung, das Dröhnen des Motors an Macht. Doch „Radio Vinci Park“ ist weit mehr als ein urbanes Stimmungsbild. Die Performance ist ein Kampf der Elemente: barocke Musik gegen metallisches Grollen, Nähe gegen Unnahbarkeit. Der Raum wird zum Spannungsfeld zwischen Erotik und Gefahr, zwischen Intimität und Entfremdung.
„Radio Vinci Park“ ist ein Stück von großer Wucht und poetischer Zerrissenheit. Mercier und Chaignaud gelingt es, Fragen nach Körperlichkeit, Dominanz, Technologie und Gender in einer performativen Sprache zu stellen, die nicht auf Antworten zielt, sondern auf Resonanz. Es fordert kein Verstehen. Der Abend lebt vom Wechselspiel der Extreme. Wer Tanz als Erzählung erwartet, wird irritiert. Wer ihn als existenziellen Ausdruck zulässt, wird überwältigt.
Was bleibt, ist kein geschlossenes Narrativ, sondern ein Nachhall im Körper, im Ohr, in der Erinnerung. Wie der Ton eines Motors, der noch lange nach dem Stillstand vibriert.
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Dieser Text entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung „DANCE – Schreiben über Tanz“ am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München im Sommersemester 2025 unter der Leitung von Anna Beke.
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