Auf dem Weg in neue Höhen
Die Heinz-Bosl-Stiftung mit ihren Herbstmatinéen im Nationaltheater
„Aus Leidenschaft! - 25 Jahre Bayerisches Staatsballett“
Die Zeit jagt uns durch die Gegenwart – erst in der Rückschau werden wir uns ihrer wirklich bewusst: Pünktlich zu Ivan Liškas letzter Saison als Staatsballett-Chef lässt nun ein gewichtiger Erinnerungsband „25 Jahre Bayerisches Staatsballett“ sinnlich lebendig vors Auge treten. Der Titel „Aus Leidenschaft!“ ist wahrhaftig – denn ohne Leidenschaft kann es Tanz gar nicht geben.
Bemerkenswert an diesen „25 Jahren“ ist die eindringlich hervorgehobene Führungskontinuität – die sich hierzulande gleich hinter John Neumeiers 43 Jahren Hamburger Ballettintendanz einordnet. Konstanze Vernon, Münchens große dramatische Ballerina der 60er-/70er-Jahre, erkämpft 1989 bei Amtsantritt als Ballettleiterin die Unabhängigkeit von der Oper und übergibt 1998 den Stab an den ehemaligen jüngeren Kollegen Ivan Liška, der mit Gattin Colleen Scott 1973 zu Neumeier abgewandert war. Aber auch ehemalige Tänzer, zum Teil sogar aus Vernons Bosl-Stiftungs-gestützter Talenteschmiede hervorgegangen, tragen zu dieser Beständigkeit bei, nämlich die Ballettmeister: Thomas Mayr, in leitender Funktion, das Ehepaar Valentina Divina und Norbert Graf und Judith Turos, letztere beiden mit dem Titel Bayerische Kammertänzer geehrt.
Bemerkenswert ebenfalls, dass anhand von einzigartig festgehaltenen Bühnenmomenten die Vielseitigkeit des Repertoires dokumentiert wird: wie es sich von der Klassik zur Neo- und postmodernen Klassik entfaltete, reicher wurde und wunderbare Tänzer offenbarte: in „Schwanensee“ die sublime Kanadierin Evelyn Hart und Oliver Wehe, den bisher einzigen gebürtigen Münchner, dem das Prädikat „danseur noble“ zustand; in Jerome Robbins' „In the Night“ erotisch-dramatisch Maria Eichwald und Kirill Melnikov, längst Professor an der Münchner Ballettakademie; in William Forsythes post-neoklassischem „Limb's Theorem“ Power-Tänzer Alen Bottaini, der jetzt, Mitte vierzig, freischaffend immer noch über Europas Bühnen fetzt und gerade dabei ist, in München eine Privat-Akademie aufzubauen.
Noch vielen anderen Tänzern begegnet man auf diesen von Wilfried Hösl ausgewählten Fotos: Tänzern von früher und heute, die das Renommee des Ensembles miterwirkt haben wie bis 2015 Lisa-Maree Cullum, ihm immer noch Glanz verleihen wie Lucia Lacarra, Daria Sukhorukova, Tigran Mikayelyan und andere. Als Hausfotograf waren Hösl auch Großporträts wichtig: von Solisten und Mitgliedern des langjährigen beständigen Teams um Liska, angeführt von seinen Stellvertretern, der Modern-Dance-Expertin Bettina Wagner-Bergelt und dem Klassik-Experten Wolfgang Oberender. Hösls Kulissen-Schnappschüsse nach gelungener Premiere erzählen ganze Geschichten von Erleichterung, Hochstimmung und Ensemble-Zusammenhalt.
Dass die Staatsballett-Leitung immer wieder auch zurückgriff auf historische Werke wie Mikhail Fokines „Shéhérazade“ (1910) oder Léonide Massines „Choreartium“ (1933), hatte auch ganz pragmatische Gründe: ein Vierteljahrhundert bringt nicht so viele Choreografen-Talente hervor, dass man jede Saison mit Uraufführungs-Hits hätte aufwarten können. Aber die sorgfältige Auswahl aus der Tanzgeschichte beweist Stilgefühl, stellt den Beginn des modernen Aufbruchs durch Sergej Diaghilews Ballets Russes heraus. Und zeigt die sich gegenseitig befruchtenden Verbindungslinien zwischen Ballettklassik und Modern Dance auf, wie in „Chaconne“ (1942) und „The Exiles“ (1950) des mexikanisch-amerikanischen Moderndance-Pioniers José Limon zu erkennen ist. Limón und die anderen in diesem Band vertretenen Choreografen sind mit einer kurzen Biographie bedacht (alle Texte von Katja Schneider und Dorion Weickmann). Die Geschichtlichkeit des Tanzes von Marius Petipa bis John Cranko, John Neumeier, Jirí Kylián, Mats Ek, William Forsythe, Richard Siegal und Russell Maliphant, also das Gewachsensein von Tanzkunst und -technik seit dem 19. Jahrhundert, erhellt auch für den Nicht-Fachmann ein witziges fiktives Gespräch aus dem Tanzgötter-Olymp. „Auf Wolke 7“ ergehen sich in Selbstlob, ätzen und schwärmen Ballets-Russes-Chef Diaghilew, Neoklassik-Genie George Balanchine, Stuttgarts Ballettwunder-Macher John Cranko und der US-Postmodern-Meister Merce Cunningham. Zum Schluss doch noch eine kleine Meckerei: Bildunterschriften sind oft wenig übersichtlich auf vorhergehenden oder folgenden Seiten platziert. Und jeweils Uraufführungsdaten der aufgeführten Werke wären schön gewesen.
„Aus Leidenschaft! - 25 Jahre Bayerisches Staatsballett“, 296 Seiten, der Großteil der Farbfotos von Wilfried Hösl, weitere von Charles Tandy und anderen, transcript Verlag, Bielefeld, 29,99 Euro.
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