Auf dem Weg in neue Höhen
Die Heinz-Bosl-Stiftung mit ihren Herbstmatinéen im Nationaltheater
Münchens neuer Ballettchef Igor Zelensky im Gespräch mit Malve Gradinger
„Igor“ schallt es über den Korridor im sechsten Stock des Münchner Nationaltheaters aus der Gruppe von Tänzern, die gerade verschwitzt, aber sichtlich inspiriert aus dem großen Ballettsaal kommt. Das Morgentraining hat die dänische Ballettkoryphäe Johnny Eliason gegeben. Und jetzt will da offensichtlich jemand wissen, wer wann jetzt Probe hat. Dieses „Igor“ klingt nach Vertrautheit. Klingt ganz so, als ob sich gleich schon zum Saisonstart das Ensemble in einer Atmosphäre von Teamarbeit formiere. Der Begriff „Team“ fällt tatsächlich mehrmals später im Gespräch mit Igor Zelensky, dem ehemaligen internationalen Ballettstar, der ab dieser Saison 2016/17 die Leitung des Bayerischen Staatsballetts übernimmt. In Zelensky, auch mit 47 noch schlank und durchtrainiert drahtig, sieht, spürt man ja auch immer noch den Tänzer. Trotzdem Vorsicht: eine gewisse Jungenhaftigkeit, die er sich auch in der Chefverantwortung bewahrt, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Zelensky genau weiß, was er will. Die Auf- und Erregung in der Münchner Kulturszene, als er vor der Sommerpause neunundzwanzig Tänzerverträge nicht verlängerte und damit fast die Hälfte des Ensembles erneuerte, ist verebbt. Zu hoffen ist, dass Zelensky – nach Ivan Liškas außergewöhnlich langer Leitung von 18 Jahren – mit seiner neuen Tänzergarde sich auch wirklich ein neues eigenes Profil schafft. Denn Kunst lebt von Veränderung. Positiv zu vermerken jetzt schon, dass Zelensky gar nicht so Pressescheu ist, wie befürchtet.
Herr Zelensky, in der Ära Ivan Liska wurde pointiert auf eine Repertoirepolitik gesetzt, die zwischen (Neo-)Klassik, Modern/Contemporary Dance und historisch-pädagogischer Aufarbeitung ausbalancierte. Was ist Ihre Zielrichtung für Ihre kommenden Münchner Spielzeiten?
Igor Zelensky: Das Bayerische Staatsballett hat ein sehr großes Erbe in allen drei Bereichen mit Werken von Petipa, Frederick Ashton bis Jerome Robbins, George Balanchine, William Forsythe und vielen anderen. Und ich bin sehr glücklich, dass wir dieses Erbe haben. Dies gilt es weiter zu pflegen. München ist eines der größten Häuser Europas, da ist es unsere Aufgabe, große Klassiker zu zeigen. Aber natürlich will ich auch Neues bringen. Es ist meine Aufgabe als künstlerischer Direktor, neue Werke choreografieren zu lassen und neue Choreografen zu entdecken.
Die Trias der bisherigen Staatsballettdirektion: Ivan Liška, der Klassikexperte Wolfgang Oberender und die zeitgenössisch orientierte Bettina Wagner-Bergelt haben die Programmpolitik gemeinsam gestaltet, aus dem jeweilig persönlichen Interessensgebiet heraus. Werden Sie die Repertoireplanung ganz alleine in die Hand nehmen – im Vertrauen auf die Erfahrung aus Ihrer internationalen Karriere? Oder werden Sie doch Berater hinzuziehen?
Igor Zelensky: Das Dreierdirektorium ist historisch gewachsen und es war auch eine Münchner Besonderheit. In der Regel ist der Direktor verantwortlich für das künstlerische Programm. Das ist meiner Meinung nach auch der richtige Weg.
Aktuelle Choreografennamen, die bei Ihnen bisher fielen, sind: Justin Peck, „resident choreographer“ des New York City Ballets, und der von Ihnen mit einer „Madame Butterfly“ für 2017/18 eingeplante Foto- und Videokünstler David LaChapelle; neben diesen beiden US-Amerikanern sind es vor allem Briten: Russell Maliphant, bereits mehrfach in Liškas Repertoire vertreten, Paul Lightfoot, der seine Karriere im Nederlands Dans Theater startete, Christopher Wheeldon, dessen „Alice im Wunderland“ von 2011 Sie nächstes Frühjahr bringen, und der u. a. fürs Londoner Royal Ballet arbeitende Wayne McGregor, den Sie für 2017/18 mit einer Uraufführung betrauen. Haben besonders die Briten das, was Sie von zeitgenössischem Tanz erwarten? Anders gefragt: welche Qualitäten muss für Sie der zeitgenössische Tanz haben?
Igor Zelensky: Es kommt nicht darauf an, wo man geboren wird, also zum Beispiel in Großbritannien, sondern mit wem man zusammenarbeitet. Christopher Wheeldon startete beim New York City Ballet, John Cranko choreografierte zuerst in London, leitete dann das Stuttgart Ballett, der Amerikaner Forsythe das Frankfurt Ballett. Und was die Qualität anbelangt: Für mich muss der zeitgenössische Tanz Energie haben, Impulse geben, den Zuschauer berühren, eben ganz wie die moderne Kunst.
In Russland hatten es die frühen Tanzerneuer wie Kasjan Goleisowsky und Leonid Lawrowsky schwer. Heute tanzen sogar russische Ensembles, nur zum Beispiel das Bolschoi, Werke von Jirí Kylián, Forsythe, McGregor und Jorma Elo. Das Problem bei dieser Repertoiremischung aus Klassik und Moderne: die klassische Technik leidet, verliert ihre Brillanz. Die muskulären Anforderungen in beiden Genres sind ja ganz verschieden – was auch zu vermehrten Verletzungen führt. Das hat sich nicht nur beim Bayerischen Staatsballett gezeigt. Wie ist mit diesem Problem umzugehen?
Igor Zelensky: Danke für diese Frage! In der Tat ist das die schwierigste Hürde überhaupt – die wir mit richtigem, mit physiologisch klugem Training zu überwinden versuchen. Denn wir wollen und werden Klassisches und Zeitgenössisches zeigen.
Zum Thema klassischer Stil: Als Mariinsky-Solist haben Sie in einem Ensemble getanzt, das so gut wie ganz aus der Waganowa-Akademie hervorging. Das heißt: Sie haben sich technisch-künstlerisch in einem bestimmten stilistischen Umfeld entwickelt. Diese einheitliche Ausbildungsgrundlage, wie sie auch, bis vor Kurzem jedenfalls, das britische Ballett und das Ballett der Pariser Oper forderten, gab es hierzulande nicht. Es gab nie eine ‚deutsche Schule’. In deutschen Ensembles tanzt, und das seit jeher, ein internationales Migrationsgemisch. Tänzer, Ballettmeister, Choreografen sind schon ab dem 16. Jahrhundert ‚gewandert’. Aber mit der heute noch viel stärkeren Migration – der US-Amerikaner David Hallberg im Bolschoi, die Russin Natalia Osipova im Londoner Royal etc. etc. – scheinen doch sehr reizvolle stilistische Unterschiede zu verschwinden. Das Moskauer Bolschoi pflegt einen flamboyanten Brio-Stil. Das St. Petersburger Mariinsky gilt eher als aristokratisch kultiviert, das Londoner Royal als vornehm verhalten. Es gibt die Unterscheidungen „französische“ und „dänische“ Schule. Was ist Ihre Meinung dazu? Was sind diesbezüglich Ihre Ziele für das Staatsballett?
Igor Zelensky: Heute kommen die Tänzer von überall her, das ist normal. Daher lade ich nach Möglichkeit d i e Ballettmeister ein, die aus der betreffenden Tradition kommen, im besten Fall das Werk entweder selbst getanzt oder es sogar choreografiert haben. Der große 89-jährige Juri Grigorowitsch wird hier sein „Spartacus“ neu erarbeiten. Stuttgarts Ballettchef Reid Anderson, ein Spezialist des Cranko-Oeuvres, wird dessen „Romeo und Julia“ einstudieren, Christopher Wheeldon selbst sein „Alice im Wunderland“. So versuchen wir, dem jeweiligen Original möglichst nahezukommen. M e i n Job ist es, festzulegen, wer von den Solisten am besten mit wem tanzt - auch in stilistischer Hinsicht.
In der Ballett-Akademie der Münchner Hochschule der Musik besteht ja ebenfalls das oben erwähnte Problem. Die Akademie nimmt ja auch ‚vortrainierte’, stilistisch also schon geprägte Studenten aus aller Welt auf. Nur die wenigsten Absolventen haben an der Münchner Institution gleich ab der Grundstufe ihre Ausbildung durchlaufen, die sich, wie es heißt, am Waganowa-System orientiert. Außerdem war die Kooperation und Kontinuität zwischen Akademie und Staatsballett – verglichen mit der Zusammenarbeit zwischen der Waganowa-Akademie und dem Mariinsky-Ballett – doch eher verhalten...
Igor Zelensky: Ich möchte auf jeden Fall helfen, die Ausbildungssituation zu verbessern. München ist für mich eine der schönsten, ehrgeizigsten und engagiertesten Städte der Welt und verdient auch eine der besten Schulen der Welt, so wie in Paris, Moskau etc. Ich werde mir das alles erst mal ein Jahr anschauen und dann sehen, was wir tun können und w i e wir helfen können.
Eine Ballettdirektion ist zu einem guten Teil ein Verwaltungsjob. Nicht umsonst hatte sich Forsythe schon in den 80er Jahren einen Geschäftsführer geholt, dito jüngst auch Martin Schläpfer. Sie haben eine große internationale Erfahrung als Tänzer, auch Ballettcheferfahrung in Athen, Novosibirsk und am Moskauer Stanislawsky-Theater. Aber Sie leiten zum ersten Mal ein deutsches Staatsensemble. Haben Sie sich vor Ihren Vertragsverhandlungen mit den finanziellen Bedingungen der Bayerischen Staatsoper vertraut gemacht? Sie erhalten zwar für Ihr Staatsballett ein eigenes Budget. Aber was man aus der Vergangenheit weiß, sprich aus der Ära Konstanze Vernon – die ja 1989 die Unabhängigkeit von der Oper erreichte – , so hat der Staatsballettchef durchaus die Möglichkeit, sollte, m u s s eigentlich bei Vertragsabschluss immer noch um Verbesserungen der finanziellen Grundausstattung kämpfen... Das Staatsballett ist zwar keine Elb-Philharmonie oder Berliner Flughafen, aber hat doch immer auch mit unerwarteten zusätzlichen Kosten zu rechnen...
Igor Zelensky: Wir haben hier eine tolle Infrastruktur, teilen uns zum Beispiel die Techniker, das Kostümwesen und natürlich das Orchester mit der Oper - das entspricht meinen Vorstellungen: ich bin ein Teamplayer. Für das alles bin ich sehr dankbar und ich bin froh, dass ich das alles habe. Aber natürlich: Es kann immer mehr sein …
Wie sieht es aus mit Sponsoren? Sogar in Ihrer Heimat ist Sponsorenunterstützung salonfähig geworden. Ex-Bolschoi-Direktor Anatoli Iksanow ist vielleicht in Russland einer der Vorreiter mit seiner Strategie, Sponsoren nach westlichem Muster zu gewinnen...
Igor Zelensky: Wir haben zwei neue Sponsoren gefunden, das ist ja auch Teil meines Jobs. Und wir arbeiten weiter dran.
Sie sagen im Interview mit der SZ vom 1.7.2016, der Spielplan für das Moskauer Stanislawsky-Ballett sei für die kommenden fünf Jahre bereits unter Dach und Fach. Und Sie hätten dort auch einen Ballettdirektor. Das wirkt auf mich nicht sehr auf- und anregend: Fünf Jahre künstlerisch schon fest zementiert und keine oder nur sporadische persönliche Anwesenheit des eigentlichen Leiters. Ein Ensemble braucht doch schon rein psychologisch die Präsenz, die fördernde Aufmerksamkeit seines Ballettchefs. Es geht doch nicht n u r um Training, Proben, Vorstellung. Wenn doch, dann könnte man den Ballettchef ja kostensparend ganz abschaffen. Vielleicht ja auch per Skype ein paar Anordnungen treffen. Und Sie werden dann ja wohl auch des Öfteren nicht in München sein...
Igor Zelensky: Die Theaterstruktur des Stanislawsky ist eine ganz andere als die in Deutschland. Außerdem hat sich dort viel geändert. Seit Juli dieses Jahres hat das Stanislawsky einen neuen Intendanten (Anton Getman, die Red.). Ich muss erst mal mit ihm sprechen, dann sehen wir weiter. Auf jeden Fall lebt meine Familie hier, insofern ist auch mein Lebensmittelpunkt in München.
Wie wird das funktionieren mit den dortigen Tänzern, bzw. den Solisten, die auch hier tanzen sollen? Haben Sie den mit München koordinierten Besetzungsplan auch schon für fünf Jahre ausgetüftelt?
Igor Zelensky: Die Tänzer leben hier und werden von Zeit zu Zeit an anderen Häusern gastieren. Diese Spielzeit steht, dann sehen wir weiter. Ich sage immer: „We think globally, but we live locally”. Sobald zum Beispiel jemand verletzt ist, ändert sich sowieso alles, dann ändern sich Besetzungen auch kurzfristig.
Warum übrigens wollten Sie das Stanislawsky nicht aufgeben? Ist das Moskauer Ensemble eine Rückversicherung, falls es in München nicht klappt? Oder sehen Sie das Stanislawsky letztlich als Sprungbrett ins Bolschoi? Nach Ihrer bisherigen Karriere zu urteilen, sind Sie nicht jemand der wie Liška fast zwei Jahrzehnte an einem Hause bleibt...
Igor Zelensky: Ich habe schon als Tänzer in mehreren Kompanien gleichzeitig getanzt, habe fast immer mehrere Dinge gleichzeitig gemacht. Ich habe drei Kinder, da kann ich auch nicht sagen, wen ich lieber mag … Ich möchte für beide Ensembles das Beste geben.
Wie ist Ihre Einstellung zum Ensemble? Kollegial? Oder, ganz wertfrei gefragt, sind Sie der Boss? Es kann ja durchaus gut funktionieren, wenn einer strikt und konsequent Maßstab und Ziel vorgibt. Aus dem, was Sie bisher in Interviews gesagt haben, behalten Sie gerne die Kontrolle über alles...
Igor Zelensky: Ich sehe mich selbst als Diener des Balletts, der Kompanie und der Tänzer. Aber irgendjemand muss doch die Kontrolle haben, oder? (lässt den schon bekannten Zelensky-Schalk übers Gesicht huschen). Wir sind alle Teil eines Teams. Und wir brauchen Disziplin. Wenn ich einen Termin um 10 Uhr habe, komme ich auch um 10 Uhr.
Welche Klassiker werden Sie selbst hier inszenieren, beziehungsweise welche Ihrer älteren Versionen aus Novosibirsk, Athen und Moskau für München überarbeiten?
Igor Zelensky: Wir fangen jetzt erst mal mit „Spartacus“ an, dann folgt „Alice“. Mein Traum ist es auch, etwas mit Paul Lightfoot zu machen. Im März 2018 feiern wir den 200. Geburtstag von Petipa, gleich im August den 100. von Leonard Bernstein. Diese Jubiläen würde ich gerne auf der Bühne begehen. Mal sehen, was das Budget zulässt.
Das Gespräch führte Malve Gradinger
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