„An American in Paris“ von Jeroen Verbruggen, Tanz: Micaela Romano Serrano und Ethan Ribeiro / Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz Marie-Laure Briane  „An American in Paris“ von Jeroen Verbruggen, Tanz: Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz Marie-Laure Briane  „An American in Paris“ von Jeroen Verbruggen, Tanz: Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz Marie-Laure Briane  „Le Sacre du Printemps“ von Marco Goecke, Tanz:  Montana Dalton, Ethan Ribeiro, Micaela Romano Serrano / Ballett des Staatst

„Le Sacre du Printemps“ von Marco Goecke, Tanz: Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz

Dystopische Punktlandung

Letzte Spielzeitpremiere beim Gärtnerplatz Theater

Die meisten Tanzkompanien haben sich bereits in die Sommerpause verabschiedet, in München ist aktuell ein tänzerischer Korkenknall zu erleben. Double Bill „Strawinsky in Paris“ verbindet Uraufführungen von Jeroen Verbruggen und Marco Goecke.

München, 21/07/2025

Selten erlebt man solch einen Kontrast – stilistisch und atmosphärisch – wie bei der eher leichten Kost „An American in Paris“ im ersten und dem Schwergewicht „Le Sacre du Printemps“ im zweiten Teil des kurzen Tanzabends. Dabei würde die beiden Stücke substantiell mehr verbinden, als die bloße Tatsache, dass die beiden zeitgenössischen Komponisten Strawinsky und Gershwin im Mekka Paris gewirkt haben und sich 1925 begegnet sein sollen. Avancierte Strawinskys „Sacre“ nach der skandalträchtigen Uraufführung mit den Ballets Russes 1913 im Théâtre des Champs-Élysées in der Choreografie der Jahrhundertfigur Waslaw Nijinsky zum epochalen Schlüsselwerk der Moderne, gilt George Gershwin neben Strawinsky als einer der Lieblingskomponisten des letzten Choreografen der Ballets Russes George Balanchine. Mit ihrem ausgeprägten „I got Rhythm“-Talent zeugten beide Komponisten von einer besonderen Affinität zum Tanz und schienen für choreografische Umsetzung geradezu prädestiniert zu sein. 

La Vie en Rose

In der Münchner Fassung (souverän am Pult: Michael Brandstätter) plätschert „An American in Paris“ genauso fröhlich vor sich hin wie das imaginäre Wasser in dem im Stück omnipräsenten Brunnen an der Place de la Concorde. Dessen filigrane Plastikröhren leuchten ebenso rosarot wie die großzügig im Kostümbild verarbeiteten Blumenbouquets, die auch vor Sonnenschirmen, Strümpfen oder in Form zu Boden stürzender Himmelskörper nicht Halt machen. Choreografisch bedient sich Verbruggen durchweg virtuos an einer breiten Palette an Bewegungsstilen von neoklassischer Eleganz eines Balanchine, Cancan-Kicks à la Folies Bergère, zeitgenössischer Akrobatik und Stepp- bzw. Revuetanz-Elementen wie man sie von den Broadwaygrößen Fred Astaire und Gene Kelly kennt. 

Dabei ist es ein wunder Punkt der Produktion, dass eine „American in Paris“-Inszenierung nicht ohne Weiteres ohne das Allroundtalent des singenden Tänzerschauspieler-Genies Kelly auskommt – dem Dreh- und Angelpunkt des sechsfach oscarprämierten Filmmusicals von 1951 – wenn kein kompensierendes Element ergänzt wird. Die auch im Musicalgenre versierten Tänzer*innen der Kompanie selbst jedoch präsentieren sich stilsicher wie stets (wunderbar: Matthew Jared Perko), können der Choreografie aber keine wirkliche Tiefe oder Dringlichkeit hinzufügen, wo diese in der Anlage fehlen. Von daher gestaltet sich „An American in Paris“ so leicht und fluffig wie die vor Beginn der Veranstaltung verteilten Macarons – ob der zuckrig-süßen Konsistenz eher eine Geschmackssache, wem es gefällt oder nicht. 

Versengte Fliegen

Anders verhält es sich bei „Sacre“, dessen Sogwirkung und Bannkraft man sich vom ersten bis zum letzten Moment nicht entziehen kann. Von vornherein waren die Erwartungen an die Umsetzung immens und brachten leise Zweifel mit sich, ob eine weitere Lesart der mittlerweile um die 300 existierenden Versionen dieses Gipfelwerks wirklich sein muss. Nach „Feuervogel“ und „Petruschka“ hat sich Goecke nun an das letzte der drei sogenannten russischen Ballette Strawinskys herangewagt und selbst übertroffen. 

Mit seiner bildgewaltigen und hochgradig expressiven Version ist dem Choreografen ein wahrer Geniestreich gelungen, der es auch mit der ikonischen Version der weiblichen Wuppertaler Tanzlegende aufnehmen kann, ohne in irgendeiner Weise vergleichbar zu sein. In idealer Weise fügt sich Goeckes Markenzeichen – die vermeintliche stilistische „Zurücknahme“ und dafür Großaufnahme einzelner Ausdrucksmittel – mit der kongenialen Komposition Strawinskys zu einem bezwingenden Gesamtkunstwerk zusammen. Die komplette Fokussierung und vermeintliche „Reduktion“ auf das grausam-schöne Wesen Mensch scheint potenziertes Substrat der epochalen Partitur zu sein. 

Die für Goecke Signatur gewordene puristische Kostümierung (Marvin Ott) seiner Tänzer*innen erhält hier eine andere Lesart – wie Hautfalten legt sich der helltransparente Stoff um die zuckenden Körper, scheint von den allmählich verwesenden Leibern abzublättern. Die aggressiv-bedrohliche Atmosphäre wird unterstrichen von der den schwarzen Bühnenvorhang belebenden Projektion, die an herabtropfende Lavaschwaden und zerrinnenden Sand erinnert – die Zeit eilt dahin, dem Ende entgegen. Besonders einleuchtend ist das „simple“ wie geniale Bild der wie im OP-Saal klinisch nüchternen, hier jedoch vor sich hin flackernden Glühbirne in der Bühnenmitte, an der sich die Tänzer*innen gleich eines zum Tode verurteilten Fliegenschwarms zischend die Flügel verbrennen. Das dystopisch-geisterhafte Stück besticht mit überragenden cineastischen Qualitäten, mit Bewegungen wie im Zeitraffer – messerscharf und in millisekundiger Geschwindigkeit ausgeführt – anhand derer die fulminanten Tänzer*innen Raum und Zeit durchschneiden und das Publikum atemlos zurücklassen. 

Für das Ensemble des Staatstheater am Gärtnerplatz bedeutet die Premiere von „Strawinsky in Paris“ eine weitere volle Punktlandung. Eine, mit der es nahtlos an jüngste Erfolge wie „Troja“ von Andonis Foniadakis oder „Dancing Postmodernism“ im Museum Brandhorst anknüpfen und einmal mehr belegen kann, wie hervorragend sich die Münchner Company mittlerweile in der deutschsprachigen Tanzlandschaft positioniert hat. 

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