So stirbt eine Primaballerina
Ein Nachruf auf Ludmilla Naranda
Wir haben 10 Jahre zusammengearbeitet und wenn ich zusammen sage, dann meine ich, dass wir vertrauensvoll die unendlich vielen Aufgaben, die dieser Theaterbetrieb für diese Kompanie bedeutete, gemeinsam gemeistert haben. Ich verdanke ihm, dass ich die Leitung der Kompanie, nicht ahnend, was auf mich zukam, am Anfang überhaupt auf die Reihe gebracht habe. Die Tänzer, die ich zum größten Teil übernommen hatte, waren jeden Abend auf der Bühne – oft mit sehr anspruchsvollen Aufgaben – wie im Bettelstudent, in dem eine Balletteinlage von Marjan schon vor meiner Zeit unter Ivan Sertic choreografiert worden war und von den Tänzern sehr gern getanzt wurde. Ich hatte mit ihm besprochen, dass wir eine Zweitbesetzung mit jüngeren Tänzern machen wollten, was dazu führte, dass eine der besten Ballerinen, die ich übernommen hatte, sofort aufgeregt in meinem/unserem Büro erschien, um sich zu beklagen, dass man ihr einen ihrer liebsten Auftritte weggenommen habe. Wir beruhigten sie und erklärten ihr, dass wir nicht gedachten sie außen vor zu lassen, aber auch jüngere Tänzer aufgebaut werden müssten und schließlich wurde ein Konsens gefunden.
Dieser frühe Zwischenfall, mit dem ich nicht gerechnet hatte – schließlich handelte es sich nicht um einen Ballettabend – erinnerte mich an meine Zeit als Tänzer bei Erich Walter an der Deutschen Oper am Rhein, als der Intendant Grischa Barfuß seinen Ballettdirektor bat, für die Silvesterpremiere „Fledermaus“ den Kaiserwalzer zu choreografieren: für das ganze Ensemble inklusive der Primaballerina Joan Cadzow (Horst Koegler: „Eine imperiale Ballerina“). Dieser Auftritt des Balletts brachte die Inszenierung durch einen scheinbar nicht enden wollenden Applaus zum Stillstand, ähnlich wie der am Gärtnerplatz, den ich gerade beschrieb. Diese Auftritte waren die beste Werbung für unsere Ballettabende, denn das Publikum, besonders das viel kritisierte Abonnement, kannte aus diesen Aufführungen „sein Ballett“ und sie tauschten ihre Plätze auch nicht, wenn statt Strauß Caesar Frank oder Giselher Klebe auf dem Programm stand.
Wie schon gesagt, Marjan kannte das ganze Repertoire, machte mit der ihm wahrlich angeborenen Akribie die Repetitionsproben und natürlich Umstudierungen, wenn jemand krank wurde, was glücklicherweise recht selten und nur in schlimmeren Fällen passierte. Ich habe bei einer seiner Proben mal zu ihm gesagt: „Du bist ja deutscher, als man uns Deutschen nachsagt“. Er war immer bestens vorbereitet und hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant, wenn ich auch bezweifele, dass sie sich so viele Schritte merken können ...
Marjan, 1937 in Kroatien geboren, hat in Zagreb die Schule besucht und dann in Belgrad nach russischer Art das Ballett für sich erobert. In Zagreb hat er wohl auch seine ersten Auftritte gemacht und war mehrere Jahre im dortigen Ensemble, ehe er in Heidelberg und Lübeck engagiert war. Ich habe ihn zuerst wahrgenommen, als er in Wuppertal unter Vertrag stand und wenn ich mich nicht sehr irre, hat er dort in Ivan Sertics „Aschenbrödel“ den Haushofmeister getanzt, der mich durch seinen skurrilen Auftritt mit den bösen Schwestern beeindruckte, die den obersten Lakaien überfielen. Daraufhin machten sie sich an den Prinzen ran, bei dem sie keine Chance hatten und der Erich Zschach hieß. Im wahren Leben war er Marjan, ein zuverlässiger und beruhigender Partner, auch wenn seine Nervosität überhandzunehmen drohte. Wie Marjan bekannte: „Der Glücksfall meines Lebens“.
Marjan hat seine Arbeit sehr ernst genommen und eigentlich war es ja keine Arbeit, denn er liebte dieses zum Broterwerb erhobene Hobby und auch wenn er ein Training gab war das bis ins Detail vorbereitet. Es war deshalb entzückend, wenn er sich mal aus irgendeinem Grund mit einem der vielen Füße oder Ports des bras geirrt hatte. Er hätte sich schier selbst ohrfeigen können; Unfehlbarkeit war seine Devise. Lieblinge hatte er keine, er kannte nur gute oder weniger gute Tänzer, zuverlässige oder Wackelkandidaten. Wenn jemand, was glücklicherweise nur in Ausnahmefällen geschah, nicht oder zu spät zur Vorstellung erschien: Marjan war bereit auch das Kostüm eines Artisten in der „Verkauften Braut“ anzuziehen und den Auftritt zu retten. Ein Mann, der Theaterblut scheinbar mit der Muttermilch aufgenommen hatte.
Neben seiner Tätigkeit als Ballettmeister hatte er auch jahrelang einen Lehrauftrag an der Musikhochschule, wo er den jungen Sängern Bewegungsunterricht erteilte. Ich weiß, wie sehr sie schätzten, dass er ihnen behilflich sein konnte und ihnen bei der Rollengestaltung Bewegungsmaterial an die Hand gab. Ja, er war auch ein Stimmfetischist und es war immer großartig mit ihm über neue Schallplatteneinspielungen oder Premieren zu diskutieren. Aber er konnte sich auch ereifern über Sänger oder Schauspieler, die nicht das nötige Wissen hatten, um beurteilen zu können, wie schwer die Dinge sind, die Tänzer machen und in der Gasse standen und sich darüber lustig machten.
Wir hatten illustre Gäste in der berühmten „My Fair Lady“-Inszenierung von August Everding, wo so etwas vorkam, das mich veranlasste bei einem Jour fixe solche Äußerungen auf die Agenda zu setzen: der Straßen-Can-Can, den die Tänzer von einem amerikanischen Choreografen eistudiert hatten, war so kompliziert, dass es sehr schwer war, adäquate Männer zu finden, welche die anspruchsvollen Rock'n' Roll-Lifts (zusammen in sechs Paaren!) ausführen konnten. Nach einer freundlichen Rüge haben die Promis daraus gelernt und wir sind auch an den Aufgaben gewachsen, sonst hätte ich es nie riskiert zehn Paare im Schneewalzer des „Nussknacker“ zu choreografieren. Schauspieler müssen nicht im Chor sprechen und Sänger kein hohes C zusammen singen, das überlassen sie auch den „4 Tenören“.
Eines Morgens, noch vor dem Training kam Marjan leicht verstört ins Büro. Ich hatte mich schon gewundert, dass er noch nicht da war, denn er war normalerweise immer vor mir da. An diesem Tag meinte er, er müsse ein Problem mit mir lösen. Er hatte von der Musikhochschule eine Vollzeitstelle angeboten bekommen und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, denn er liebte die Theaterarbeit. Aber da ich schon in meiner zehnte Spielzeit war, er jedoch durch seine lange Zugehörigkeit in diesem Staatstheater unkündbar war, kam er in diese Zwickmühle. Ein Intendantenwechsel lag in der Luft. Ich riet ihm, sich nicht den Kopf zu zerbrechen, sondern dieses Angebot anzunehmen, wenn ich ihn auch ungern ziehen ließ, was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte. Er übergab seine Aufgaben an jüngere und der Übergang war durchaus ohne Brüche, aber nach seinem Weggang war nichts mehr wie vorher.
Schon während unserer Zusammenarbeit war er einmal schwer krank und wurde operiert, aber erholte sich gut. Doch von diesem Zeitpunkt an wussten wir, wie begrenzt seine Lebenserwartung war. Er kam gut damit zurecht, wie ich glaube, denn jedes Mal wenn wir uns später mal bei einem Spaziergang trafen – er wohnte mit Erich zwei Häuser neben mir – war er guten Mutes, wenn er sich auch sehr zurückgezogen hatte und ein behutsames unaufgeregtes Leben im Ruhestand führte. Und mit diesem erfüllten Leben ist auch ein Stück meiner Verbindung zu München zu Ende gegangen und ich wiederhole es noch einmal: Es ist schmerzhaft.
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