Mit Feinschliff
Das Bayerische Staatsballett zeigt Peter Wrights „Giselle“
Wiederaufnahmepremiere von „Giselle“ beim Bayerischen Staatsballett im Münchner Nationaltheater
Der pandemische Ausnahmezustand zum Münchner Nicht-Wiesnauftakt vergangenen Samstag: eine Tanznacht zum Start von Jubiläumsfeierlichkeiten „30 Jahre Bayerisches Staatsballett“ findet nicht statt. Dafür öffnen erstmals wieder Kneipen. Geld fließt in die Kassen der Wirte und Bier durch die Kehlen feierlustiger Bürger*innen. Auf dem eigentlichen Festgelände bleibt Alkohol verboten. Zugleich steigen die Infektionszahlen in der Bayerischen Landeshauptstadt auf ein kritisches Maß an. Weshalb fünf Hundertschaften im eigentlich 2.100 Zuschauer fassenden Publikums-Innenrondell des Nationaltheaters ab sofort durchgehend ihren Mund-Nasen-Schutz aufbehalten müssen.
Angesichts der umwerfenden „Giselle“-Wiederaufnahme mit hinreißenden Hauptdarsteller*innen und zahlreichen Rollendebüts eine durchaus hinnehmbare Auflage. Zu katastrophal wäre ein erneuter Totalstillstand! Allerdings irritiert die eindeutig zu wenig situationsabgestimmte Regelausgewogenheit, wenn den disziplinierten Kulturgänger*innen nach dem pausen- und konsumfreien Theaterbesuch auf dem Areal rund um das Nationaltheater Ausgelassenheit mit Bierpegel und in Oktoberfesttracht anprustet. Maskenfrei versteht sich.
Das Bayerische Staatsballett jedenfalls fährt mit seiner Repertoirepolitik im Augenblick dank seinem leitenden Ballettmeister Thomas Mayr einen guten Kurs. Wie Ray Barra für „Schwanensee“ gestattete ihm auch Peter Wright bei „Giselle“ kleine choreografische Eingriffe, um das Werk unter derzeit in Bayern greifenden Hygienebestimmungen spielbar zu machen. Andere Rechteinhaber zeigen sich weniger kooperativ. Ballette wie „Coppelia“ oder „Jewels“ (soeben in Wien von Martin Schläpfers neu aufgestellter Kompanie in toto getanzter Balanchine-Abend) können deshalb vorerst vom Bayerischen Staatsballett nicht weiter gezeigt werden.
Da kommt die wahrlich aus dem Boden gestampfte Ankündigung des zeitgenössischen Dreiteilers „Paradigma“ (ab 3.11.) gerade recht – mit einer Neuauflage von McGregors „Sunyata“, Sharon Eyals „Bedroom Folk“, das bereits für die entfallene Ballettfestwoche im Mai geplant war und einer Europapremiere des Ex-Royal-Ballet-Hauschoreografen Liam Scarlett: „With a Chance of Rain“ zu Klaviermusik von Rachmaninow für acht Protagonist*innen.
Hinter den Kulissen strömt alle Energie hinein in das, was geht. Und „Giselle“ – das schon zur Gründung des eigenständigen Bayerischen Staatsballetts 1990 sowie 2016 von Ballettchef Igor Zelensky zum jeweils ersten Aushängestück gewählter Handlungsklassiker vom mutwillig betrogenen Winzermädchen – funktioniert auch ohne vollständige Ensembleszenen nahezu perfekt. Nur vor Mutter Berthe (Séverine Ferrolier) verstecken lässt es sich hinter nur elf Landleuten auf der insgesamt 2.500 Quadratmeter umfassenden Bühnenfläche weniger leicht.
Umso mehr beeindruckt bei der personell entzerrten Wiederaufnahme, wie überaus raumgreifend ausdrucksstarkes Verschmelzen mit dem Charakter der darzustellenden Rolle sein kann. Matteo Dilaghi als Albrechts Vertrautem Wilfried stehen wenig technische Schauelemente zur Verfügung. Sein Körper aber bleibt stets beredt, weil er jede Geste im Umgang mit Dmitrii Vyskubenko passgenau platziert. Vyskubenko wiederum – absolut souverän bei seinem Debüt – benimmt sich auf Freiersfüßen bestimmend leichtfertig, obwohl verlobt, indem er sich all seiner Adelsattribute entledigt.
Seit der Absolvent der Bolschoi-Schule 2016 als Gruppentänzer hier anfing, konnte man gar nicht anders, als Stück für Stück sein unermüdlich steiles Vorankommen zu verfolgen. Mit seiner fein nuancierten und durchgängig blitzsauber getanzten Auslegung des Albrecht ist er jetzt an jenem Zielpunkt angelangt, wo alles Handwerkszeug zugunsten künstlerischer Leistungen zur Selbstverständlichkeit zu werden beginnt. Für München ein neuer Heinz Bosl – forsch formuliert. Die imposante Statur von Emilio Pavan – einem weiteren ausgefinkelten Rollenwandler – drückt der Figur des Hilarion schon optisch allein markante Züge auf. In Prisca Zeisels (Mrytha) grabeskalter Nachtwald-Arena, umzingelt von 12 (sonst 18) männerhassenden Wilis, hat sein Überleben null Chance. Verzeihend rettet seine verstorbene Angebetete nur den Rivalen Albrecht.
Laurretta Summerscales‘ Debüt der Titelpartie ist ein brillanter Triumph. Bereits im 1. Akt zeigt ihre Giselle körperliche Erschöpfung und Zeichen schwacher Konstitution. Als Albrechts Betrug in Liebesdingen auffliegt, wendet sie den Blick des Mädchens ganz nach innen. Gepackt von Wahnsinn verwandelt sich Summerscales quasi auf offener Bühne in eine Wilis. Eine zuvor in jeder Pas de deux-Sekunde mit Vyskubenko harmonierende Giselle. Schließlich raubt ihr das Tanzen keine Kraftressourcen mehr. Am Ende schöpft ihr Geisterwesen aus unverbitterter Zuneigung Stärke und Entschlossenheit. Genau das macht die Auftritte dieser vielgestaltig tollen Ersten Solistin so besonders.
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