Unter Strom
Tanz und Performances aus der Schweiz
depARTures 2020 mit Länderfokus auf „Unique dance and performance from Québec/Canada“ wurde coronabedingt abgebrochen
Wie sich die meisten Künstler*innen fühlen müssen, machte Mélanie Demers deutlich. Im Nachgespräch zu „Icône Pop“ – ihrem 35-minütigen Kaleidoskop über Frauenbilder – sprach sie aus, was die vier Gastspiele der städtisch geförderten Tanzreihe depARTures von den Außenbedingungen her einte: „Es ist extrem außergewöhnlich und zugleich unglaublich schön, die weite Reise von Kanada nach München angetreten zu sein, um hier – zum ersten Mal seit über sechs Monaten – vor so wenigen Zuschauer*innen zu performen.“
Ihr Beitrag war das Knallbonbon dieses Minifestivals mit Stücken, mustergültig dazu gemacht, Publikum und Interpret*inn(en) für die jeweilige Aufführungsdauer sensorisch zu verkoppeln. Auf stets absonderliche Art und Weise. Ohne Möglichkeit, den energetischen Entladungen einer immer noch großartigen Louise Lecavalier, Daniel Léveillés unbarmherzig rigidem Konvolut seriell abrupt ausgeführter, sperriger Technik oder dem unerbittlichen Sich-Wiederholen und schonungslosen Insistieren einer sich langsam steigernden Bewegungsschleife von Daina Ashbee auszukommen. Dass sich erst aufgrund von Beharrlichkeit ein rezeptiver Effekt einstellte, kann rückblickend als zweite Klammer benannt werden.
Mit einer blauen Abdeckplane als gloriose Abendrobe um den Körper drapiert, ausstaffiert mit Heiligenschein, Sonnenbrille und megalanger Halskette legte Demers los. Schritt für Schritt wuchtig anzusehen auf ihrem imaginären, von Zuschauer*innen auf Abstand gesäumten Laufsteg im Schwere Reiter. Ein sich Schicht für Schicht häutendes Chamäleon, das sukzessive mit seiner Kostümhülle weibliche Rollenklischees von Unschuld, Scheinheiligkeit, Mütterlichkeit und verklärtem Ruhm ablegt.
Was nach diesem Striptease auf einem Treppchen sitzen bleibt, ist Demers performativer Höhepunkt. Mit heller Kunstbrust („eine dunkle gab es in Montréal nicht zu kaufen“), die sich die Tochter eines Afrikaners und einer Kanadierin angeklebt hat, bricht sie aus – in einen verbalgespickten Orkan aus Lachen. Das Bild einer selbstgewiss Verlassenen. Ganz herrlich befreit von jedweder sich überstülpender Männlichkeit. Das darf man als feministisches Statement lesen. Muss es aber nicht.
Zuvor hatte man in der Muffathalle Maskulinität satt präsentiert bekommen. Von vier Tänzer*innen, die sich in der gegen Perfektion und Ausführungsschönheit gebürsteten, acht Jahre alten Choreografie „Solitudes Solo“ von Léveillé nacheinander an aus dem Stand heraus zu bewältigenden Drehungen, Streckungen, Balancen und Sprüngen abarbeiteten. Da prallte einem sportive Schroffheit entgegen, die sich mit der Zeit zu herbem Charme wandelte – lediglich einmal konterkariert durch den barbusigen Körper einer Frau. Auch für den/die Betrachter*in eine Tour de Force, akustisch umspült von Bachs Musik, die schlussendlich mit „Somewhere over the Rainbow“ und unter sich in die Dunkelheit saugendem Rotlicht überraschend sachte ausplätscherte.
Ein paralleles Nebenher von Klang und Bewegung fand man auch in Daina Ashbees Solo „Serpentine“ vor. Mit dem Unterschied, dass hier das von Jean-Francois Blouin eigens kreierte Sounddesign abstrahierte Körperlichkeit dramatisch befeuerte – vergleichbar der komponierenden Lyrikerin Mykalle Bielinsky, die ausgehend von Dvořáks „Stabat Mater“ Mélanie Demers live begleitet hatte.
Völlig nackt auf einer ölig rutschigen und glänzenden Tanzbodenbahn schaffte die mexikanische Interpretin Areli Moran es, über 70 Minuten lang allein durch ihr Sein zu fesseln. Scheinbar endlos wie Sisyphos dazu verdammt, den maskierten Gesichtern im HochX um ihre schneckenschmierige Spur herum wieder und wieder dieselbe Sequenz vorzuführen. Aggregatszustände werden durchlebt. Erst liegt man flach am Boden zusammengeklappt. Aus der Krötenhaltung entfaltet sich ein Vierfüßler, der schließlich platt auf dem Bauch über den Rest der Strecke robbt. Nur den Weg zurück zum Anfang geht Moran aufrecht. Insgesamt dreimal. Mehr und mehr verklebt mit aufgelöstem Zopf.
Die aufs Neue bemerkenswerte Gastspielreihe sollte vom 5.-8.11. futuristisch mit Isabelle Van Grimdes Company Corps Secrets und der Performance-Installation „Eve 2050“ in der Muffathalle weiter- bzw. zu Ende gehen. Alle Künstler*innen waren längst vor Ort. Doch die erneute Schließung aller Kulturinstitutionen vereitelte das geplante Finale. Darin hätte man die Zukunft von Mensch und Körper im Zeitalter digitaler Technologien, biomedizinischem Fortschritt und künstlicher Intelligenz reflektiert bekommen. Das Gastspiel wurde nun „auf unbekannt verlegt“. Der Rest vom Fest, der noch zugänglich bleibt: Alle Künstler*innengespräche wurden aufgezeichnet und sind hier kostenfrei abrufbar.
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