Nicht zu Ende
depARTures 2020 mit Länderfokus auf „Unique dance and performance from Québec/Canada“ wurde coronabedingt abgebrochen
von Sabine Leucht
Sie tragen rosenkäfergrüne Kostüme, aus denen nackte Beine ragen. Festgefroren auf der Tanzfläche des Münchner Schwere Reiter fixieren ihre Blicke das eintrudelnde Publikum. Schließlich mischt sich ein Klicken und Bollern in den schnarrenden Soundtrack, die Neonröhren im „WELCOME“-Schriftzug gehen an und Romane Peytavin und Pierre Piton fahren ihre Glieder aus. Zum Stechschritt, Marsch, Kick oder Hampelmannklatschen oder allem auf einmal. Ein
munterer Techno-Trab (und später auch -Galopp) begleitet das Umkreisen des Spielfeldes wie das Abschreiten unsichtbarer Barrieren. Die Oberkörper kippen in alle Richtungen, mal lässt einer super-flirty den Kopf kreisen, mal springen beide scheinbar ad hoc in wild entschlossene Kampfposen. Alle denkbaren Bewegungen sind offenbar abrufbar – von der Gymnastikübung bis zum Grand Jeté. Aber es ist stets eine Unwucht drin, eine koordinierte Unkoordiniertheit. Mal scheint die Spannung zu lasch, mal die Kraft hinter der Bewegung zu groß, das Aufkommen auf dem Boden zu laut oder jedes Körperteil anderen Dynamiken unterworfen. Und auch wenn das oft sehr lustig ist, traut man sich nicht zu lachen. Dafür sehen die zwei Tänzer*innen, viel zu verloren aus. Ein angeschossener Blick liegt in ihren weit aufgerissenen Augen. Als erwarteten sie jeden Moment, dass man ihnen den Strom abdreht. Denn Peytavin und Piton (kurz: La PP) porträtieren in „Farewell Body“ keine schwindelig dressierten Käfer, sondern die Existenz von Androiden. Was erklärt, dass sie ungefähr so tanzen wie eine KI schreibt: Überkorrekt, lendensteif und reich an Gemeinplätzen. Dass sie einen damit ins sogenannte „uncanny valley“ entführten - eine Beschreibung dafür, dass uns allzu menschenähnliche Roboter unsympathisch oder sogar unheimlich erscheinen - trifft meiner Meinung nach nicht zu. Man hat es hier ja augenscheinlich mit Menschen zu tun, die Androiden simulieren, die abrufen, womit Menschen sie programmiert haben. Damit hängen sie tragisch zwischen den Polen Gliedermann und Gott, die nach Kleist allein zur natürlichen Grazie fähig sind. Menschenähnlicher und ergo tragischer geht es ja kaum!
La PP, gegründet 2018, gehören zu den neueren Formationen in der Schweizer Tanzszene, der die Joint Adventures-Gastspielreihe depARTures bereits 2007 eine Visite abgestattet hat. Bis zum 25. November gibt sie nun erneut einen Überblick über deren aktuelle Tendenzen und genreübergreifende Vielfalt.
Los ging es mit Cindy Van Acker und ihrer Compagnie Greffe. Die Belgierin ist seit gut 20 Jahren eine feste Größe in der Schweiz, hat zweimal den Schweizer Tanzpreis und erst in diesem Jahr den Hans-Reinhart-Ring gewonnen, den Schweizer Grand Prix Darstellende Künste. Ihr München-Gastspiel mit „Sunfish“ war zugleich die Welturaufführung, wobei der Abend mehrere Miniaturen und Stücke zusammenführt, die zwischen 2009 und 2020 entstanden sind. „Sunfish“ ist eine Hommage an den 2017 tragisch ums Leben gekommenen finnischen Pionier der elektronischen Musik Mika Vainio, mit dem Van Acker eine lange Arbeitsbeziehung verbindet. Und wie die Körper den Tönen Raum geben, sich von ihnen tragen lassen oder sie scheinbar eigenständig modulieren, ist sensationell. Bewegung, Musik und als dritter Mitspieler das Licht ringen nicht um ihre Vormachtstellung, sondern handeln sie höchst subtil untereinander aus. Sei es in einer grafisch-skulpturalen Präzisionsarbeit wie zu Beginn - einem Auszug aus „Diffraction“ von 2011, in dem sich zu einem allgegenwärtigen schabenden Sound zwei Körper sehr langsam und synchron zu erstaunlichen Formen entfalten wie Eisblumen am Fenster - oder in einer energetischen Zerreißprobe wie dem „Knusa“-Fragment, in dem Cindy Van Acker selbst ihren Körper ins elektronische Klanggewitter stellt: Mit dem erhobenen Arm scheinbar die Tonhöhen regelnd, während der andere auf die harten Zäsuren der Bässe reagiert. Und als sie das frei im Raum flottierende Publikum zur zweiten Tanzfläche in der Muffathalle geleitet, auf der die vier Kolleg*innen schon auf ihren nächsten Einsatz warten, geht sie so, als wäre ihr Körper an ein Starkstromnetz angeschlossen gewesen. Das ist abstrakter Tanz in Bestform und ein intensives Erlebnis, das (wie „Farewell Body“, wenn auch ganz anders) den Blick auf den menschlichen Körper verändert. Wer es verpasst hat: Es gibt noch mehrere Chancen zu sehen, was gerade tänzerisch los ist bei unseren Nachbarn im Süden.
Do. 16. & Fr. 17.11., 19 Uhr
Schwere Reiter, Studio, Dachauer Str. 114
József Trefeli & Gábor Varga „Creature“
Sa. 18. & So. 19.11., 20 Uhr
Einstein Kultur, Halle 03, Einsteinstraße 42, 81675 München
Tyra Wigg „squeeze“
Fr. 24. & Sa. 25.11., 20 Uhr
Fat Cat, Carl-Orff-Saal, Kellerstraße 8a, 81667 München
ZOO – Thomas Hauert „EFEU“
Die Gastspiele werden durch diskursive Formate und Workshops ergänzt, um die beteiligten Künstler*innen mit der lokalen Szene und dem Publikum zusammenzubringen.
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