Letzte Proben von „Jewels“ am Bayerischen Staatsballett. Tanz: Prisca Zeisel mit Ensemble in „Rubies“

Letzte Proben von „Jewels“ am Bayerischen Staatsballett. Tanz: Prisca Zeisel mit Ensemble in „Rubies“

„Süchtig nach seinen Balletten“

Ein Gespräch mit Patricia Neary über die Einstudierung von „Jewels“ in München

Seit 50 Jahren studiert die einstige Ballerina des New York City Ballet Choreografien von George Balanchine ein. Das macht über 30 Stücke weltweit. Mit dem Bayerischen Staatsballett hat sie nun den Mittelteil von „Jewels“ erarbeitet.

München, 23/10/2018

Seit 50 Jahren studiert Patricia Neary die Ballette von George Balanchine ein. Das macht über 30 Choreografien an zahlreichen Häusern in Europa, Asien und Amerika. Als eine seiner Tänzerinnen am New York City Ballet hat Balanchine ihr die Hauptrolle in „Rubies“ – dem Mittelteil des dreiteiligen Ballettabends „Jewels“ (1967) – auf den Leib choreografiert. Am Wochenende feiert dieser Premiere am Bayerischen Staatsballett.

Als 14-Jährige traten Sie dem National Ballet of Canada bei, drei Jahre später schlossen Sie sich Balanchines New York City Ballet an. Wie kam es dazu?

Patricia Neary: Ich habe eines Tages das Ensemble im Fernsehen tanzen sehen und war so fasziniert, dass ich meinen Job als Corps de ballet-Mitglied in Kanada kündigte und mit meiner Mutter und meiner Schwester nach New York ging. Dass es geklappt hat, in die Kompanie von Balanchine aufgenommen zu werden, macht mich heute noch glücklich.

Eine folgenreiche Entscheidung. Sie hatten sicher nicht erwartet, dass Balanchine und sein Werk Sie ihr ganzes Leben lang begleiten würden.

Patricia Neary: Nein, gar nicht! Ich hatte dadurch eine wunderbare Karriere in seiner Kompanie, verließ diese aber, um als Tänzerin in Genf zu arbeiten, und begann schon bald seine Ballette in Europa einzustudieren.

Ihre erste Einstudierung war 1968 „Agon“ am Stuttgarter Ballett. Warum haben Sie überhaupt begonnen, seine Stücke an europäische Häuser weiterzugeben?

Patricia Neary: Balanchine sandte mich dorthin. Daraufhin interessierte man sich auch am Genfer Ballett für eine Einstudierung von „The four temperaments“ und so kamen immer mehr Anfragen. Ich war dafür erstmal gar nicht vorbereitet.

Und so beendeten Sie schon bald Ihre aktive Karriere als Tänzerin.

Patricia Neary: Ja! Im Alter von 33 Jahren. Ich war eine sehr junge Ballettdirektorin. Es hat sich aber immer richtig angefühlt, was ich tat. Mr. Balanchine war sehr generös, ich durfte seine Ballette zeigen und bekam sogar die Originalausstattungen. Anfangs begleitete er mich manchmal dabei, zeigte mir, was fehlte und gebraucht wurde. Durch die Einstudierungen stand die Tür für mich überall immer schon offen, da ich zuerst seine Ballette mit den Kompanien erarbeitete und darauf die Jobangebote folgten.

Das erste erhielten sie 1970 für eine Position als Ballettmeisterin am Berliner Staatsballett. Drei Jahre später folgte die Ballettdirektion in Genf, danach Zürich. Beide Häuser machten Sie zu europäischen Dependancen des New York City Ballet. Und auch die Tür nach Italien öffnete sich 1986. Die Mailänder Scala wurde jedoch zu Ihrer letzten Station als Ballettdirektorin.

Patricia Neary: Ehrlich gesagt, hat mich die Zeit an der Mailänder Scala ziemlich erledigt. Mr. Balanchine starb 1983 und es hat sich angefühlt, als ob ich meine Unterstützung verloren hätte. Deshalb dachte ich, das Beste, was ich tun kann, ist, seine Ballette einzustudieren. Und das war es, was ich vordergründig tat und immer noch tue.

Für das Bayerische Staatsballett haben Sie nun die Einstudierung von „Rubies“ – dem Mittelteil des dreiteiligen Ballettabends von „Jewels“ (1967) – übernommen. Was macht eine gute Einstudierung aus?

Patricia Neary: Ich studiere „Rubies“ seit mehr als 40 Jahren ein. Da ich im Original-Cast mit dabei war und er eine der Hauptrollen für meinen Körper kreierte, kann ich das Wissen und die Idee dahinter transformieren und an die jetzigen Tänzer weitergeben. Denn es geht bei einer Einstudierung nicht darum, was ich möchte, sondern was er wollte. Es verschafft mir einen gewissen Respekt gegenüber den Tänzern, dass ich ihn kannte und mit ihm gearbeitet habe. Damit erhält man die Balanchine-Stücke am Leben.

Benutzen Sie neben dem Wissen Ihres Körpers auch andere Materialien für Ihre Einstudierungen?

Patricia Neary: Als ich damals begann, die Choreografien zu lernen – etwa „Agon“ – hatten wir noch keine Aufzeichnungen. Da wurde direkt von den Tänzern gelernt. Nach und nach gab es immer mehr Filme seiner Ballette, da viel für das Fernsehen aufgenommen wurde. Anfangs benutzte ich 16mm-Filme. Mir war es wichtig, mit einem Film Einblicke in das Stück zu geben. Über die Jahre hat sich mit den Aufzeichnungen ein enormes Wissen angesammelt. Dennoch gibt es für mich ein Problem: wenn man ein Balanchine-Stück bewahren möchte, muss man mittlerweile viele, viele Jahre zurückgehen, in die 80er, direkt vor seinen Tod. Diese Videos benutze ich nun für meine Einstudierungen, von 1980 bis 1983.

Und wie gehen Sie an die Einstudierung von „Rubies“ ran?

Patricia Neary: Es ist wichtig, den richtigen Stil, die richtige Musikalität, und die richtige Richtung vorzugeben. Und vor allem niemals zu vergessen, dass Balanchine der Schöpfer der Choreografie war. Mittlerweile bin ich sehr schnell geworden dabei. Wenn ich in ein Studio gehe und beginne, bin ich ein wenig wie er. Denn er verwandte auch nicht viel Zeit auf das Choreografieren. „Rubies“ schuf er innerhalb von vier Tagen.

Was erinnern Sie von diesem viertägigen Kreationsprozess?

Patricia Neary: Es war unglaublich! Er war so schnell, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Es kam einfach aus ihm heraus, vor allem da er die Musik sehr gut kannte. Er sagte immerzu: „Ich weiß genau, an welchen Stellen die Gruppe und an welchen die Solisten auftreten werden.“ Das waren die wesentlichen Pläne, die er machte, bevor er mit den Tänzern ins Studio ging.

Balanchines Ausgangspunkt für seine Kreationen war stets die Musik. Für „Jewels“ verwendete er Kompositionen von Gabriel Fauré, Igor Strawinsky und Peter I. Tschaikowsky.

Patricia Neary: Er war ein großartiger Pianist und komponierte sogar manchmal selbst. Er verband in seinen Werken Musik und Tanz auf eine sehr spezielle Art und Weise. Daher braucht man als Tänzer auch ein gutes Verständnis der Musik, den Zählzeiten und Pausen. In seinen Choreografien kannst du die Musik sehen!

Was sollte eine Tänzerin oder ein Tänzer neben dem Verständnis der Musik noch mitbringen, um „Rubies“ zu tanzen?

Patricia Neary: Es ist etwas jazzy, mit vielen Hüftbewegungen. Vor allem die Gruppensequenzen erfordern sehr starke, ausdauernde TänzerInnen mit guter Technik. Denn auch das Corps de ballet tanzt die ganze Zeit, statt im Hintergrund zu stehen. Choreografiert ist „Rubies“ für acht Frauen und vier Männer, bei der weiblichen Hauptrolle setzt sich das Bewegungsvokabular vor allem aus Sprüngen, Drehungen und High-Kicks zusammen. Ach, es ist eine wundervolle Choreografie und genau das, was Tänzerinnen lieben! Ich habe nie Probleme gehabt, es einzustudieren.

„Jewels“ thematisiert in seinen drei Teilen verschiedene künstlerische Schaffensphasen von George Balanchine: Das zaristische Russland, wo er seine Ausbildung absolvierte; Frankreich und Europa, wo er seine Zeit als Tänzer und Choreograf der Ballets Russes verbrachte; und schließlich die USA, wo er 1934 zu arbeiten begann und 1948 zusammen mit Lincoln Kirstein das New York City Ballet gründete. Was war das Besondere an seiner Arbeit?

Patricia Neary: Er hat nie seine Wurzeln verloren, obwohl er in Russland viel gelitten hat. Als er sich den Ballets Russes anschloss, begannen seine kreativen Fähigkeiten zu reifen. In Amerika eröffnete er seine Schule und kreierte eines seiner außergewöhnlichsten Ballette noch vor der Gründung des New York City Ballets - „Serenade“. Ich liebte die Geschichten darüber. Einmal fiel ein Mädchen während der Proben auf den Boden und er hat das als Teil der Choreografie genutzt. Das war es, was er tat. Mit dem zu arbeiten, was ihn umgab. Nebenher hatten die Tänzer andere Jobs, ihm standen nur fünf Mädchen für die Choreografie zur Verfügung, also kreierte er eine Sequenz für sie. Ich danke ihm heute noch jeden Tag für die Inspirationen, die er mir gab. Obwohl es nicht einfach war, mit ihm zu arbeiten…

Warum?

Patricia Neary: Er war extrem. Er wollte, dass man immer 100 Prozent gibt. Normalerweise geben das viele Tänzer erst auf der Bühne. Aber er erwartete das bereits in den Proben. Man durfte nie nur markieren oder etwas zu leicht nehmen. Ich bin übrigens nicht so! Obwohl vielleicht bin ich mittlerweile genauso streng geworden. Heute verstehe ich ihn auch besser, wenn man im Studio sitzt und den Tänzern die ganze Zeit zuschaut…

Sie waren noch sehr jung, als Sie in seine Kompanie kamen. Wie hat er Ihr Selbstverständnis als Tänzerin beeinflusst?

Patricia Neary: Seine Choreografien veränderten alles. In Kanada stand ich drei Jahre lang in der hintersten Reihe des Corps de ballet, bei Giselle, Schwanensee... Als ich nach New York kam, war das erste, was ich tanzen durfte „Symphonie in C“ und „Serenade“. Es hat sich angefühlt, als sei ich im Himmel! Durch ihn habe ich den Tanz noch mehr geliebt als zuvor. Er gibt einem mit seinen Balletten die Chance, das zu machen, was man wirklich will. Als Tänzer – egal ob Solist oder Corps-Mitglied – gehst du durch eine harte Ausbildung, musst lernen zu springen und Pirouetten zu drehen. In Kanada hatte ich den Eindruck, dass ich niemals die Möglichkeit bekommen würde, das, was ich in der Ausbildung gelernt hatte, nochmals zu zeigen. Mit meiner ersten Balanchine-Choreografie änderte sich alles. Ich war süchtig nach seinen Balletten.

 

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