Sehnsucht und Verfall

Alexander Wenzlik mit dem Solostück „Sirene“ im HochX München

Griechische Mythologie mit japanischem Butoh-Tanz vereint: Die Sirene im hinteren Teil der Bühne blinkt und will verführen, während unser Blick auf Alexander Wenzliks unbedecktem Rücken haften bleibt.

München, 24/01/2017

Thema von Alexander Wenzliks Solostück ist der griechische Mythos der Sirenen, die jeden ins Verdeben ziehen, der sich ihrem schönen Gesang hingibt. Odysseus hat es als einziger geschafft, sie zu überlisten, in dem er sich Wachs in die Ohren stopfte. Franz Kafka hat darüber die Kurzgeschichte „Das Schweigen der Sirene“ verfasst, in der die Anziehung umgedreht wird. Indem sich Odysseus ihrer Verlockung entzieht, verfallen sie ihm. Ein Spiel von Faszination und Abscheu, Macht und Unterwerfung; sich gegenseitig beeinflussend und verlangend, widersprüchlich und doch komplementär.

Die Sirene im hinteren Teil der Bühne blinkt und will verführen, während unser Blick auf Alexander Wenzliks unbedecktem Rücken haften bleibt. Dieser wird angespannt und zittert unmerklich unter dem feinen, seidenen Stoff des Kostüms, das trotz der Durchsichtigkeit äußerst viel verhüllt. Sein Körper ist - wie im Butoh -komplett weiß bemalt. Im Spiel mit Licht und Schatten wird Tanz zu einer Körperstudie, über die sich Medizinstudenten beim Lernen gefreut hätten. Wenzlik bleibt beherrscht ob der stärker werdenden Anziehung, entfernt sich langsam vom Objekt der Begierde und wird so für das Publikum selbst zu einem. Er hinterlässt dabei weiße (Fuß-)Spuren auf dem schwarzen Bühnenboden. Die sind akkurat und geradlinig; bis er sich seiner Sehnsucht hingibt, das Ersehnte sucht oder eben selbst verführen will. Geschmeidig tanzt er, verwischt die Spuren auf dem Boden. Sein Tanz, also sein Körper, ist dabei zeitweise so ruhig, dass ein kleiner Finger mehr erzählt als tausend Worte und an jener Stelle geballte Emotionen vibrieren. Animalisch wird es, wenn er kriecht oder sich wie ein Insekt bewegt. Dann singt die Sirene nicht mehr, dann hat sich der Abgrund, das Verderben aufgetan.

Das alles wirkt durch die Aspekte des Butoh noch bedrohlicher, die perfekt passen für die Darstellung dieser Sehnsucht, Täuschung und des Verfalls durch Hingabe. Eine dem Butoh eigene und geschlechtslose embryonale Haltung wird gegen Ende des Tanzes eingenommen. Die Flatterklamotten fallen weg, doch der haarlose Körper ist dadurch trotzdem nicht eindeutiger zu gendern. Butoh thematisiert nicht nur das Anfangsstadium des Lebens, sondern auch das Ende und die weiße Farbe verstärkt Unschuld oder Zerfall. Zwei Punkte in der Entwicklung, die ähnlicher (Haltung, Haut) und unterschiedlicher (Wissen, Können) nicht sein könnten. Jegliche thematische Dichotomien trägt Butoh-Tanz in sich, betont das Schöne wie Hässliche, das Gute wie das Böse. Der in den 1950er Jahren in Japan entstandene Tanz will Verdrängtes zum Vorschein bringen, ist rein intuitiv und somit ein Seelentanz. Dem Körper wird freier Lauf gelassen, das Innerste nach Außen getragen. Das kann sehr gruselig werden, wenn der Tänzer grunzt, verstört und verstörend schielt und die roten Augenränder sowie das Innere des Mundes durch das Weiß der Haut noch bedrohlicher wirken.

Nach über einer Stunde anstrengender, sehnsüchtiger und suchender Körperkunst dann Stille und Dunkelheit. Der weckende Applaus ist erlösend, die kathartische Wirkung, die der Butoh bei Tänzer und Publikum erzeugen will, ist geschehen. Der kleine Finger ist wieder Teil des Körpers und mit dem Gedanken an seine eigene Sirene geht man berauscht nach Hause.

 

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