Jenseits von schwarz und weiß
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Eine Ballettpremiere bei den Münchner Opernfestspielen – das gab es lange nicht. Nach einer durchweg erfolgreichen ersten Spielzeit des Bayerischen Staatsballetts unter neuer Leitung zog an drei aufeinander folgenden Tagen (30.6. – 2.7.) frischer Wind durchs Münchner Prinzregententheater. Mit „Ballettabend – Junge Choreographen“ gelang ein ansteckend modernes Saison-Finale. Hinter dem trockenen Titel verbarg sich die seit Jahren wieder erste Leistungsschau junger, kreativer Tanzschöpfer, die am Anfang ihrer Zweitkarriere stehen. Beachtlich vielversprechend und das Start-up einer neuen Reihe ohne bereits einschlägig bekannte Namen, aber mit umso größeren choreografischen Talenten.
Der Parforceritt der letzten zehn Monate durch Abendfüller wie „Giselle“, „La Bayadère“, „Romeo und Julia“, „La Fille mal gardée“ oder „Sommernachtstraum“ bis hin zu „Spartacus“ und „Alice im Wunderland“ machte eins deutlich: Igor Zelensky hat als Ballettdirektor ein Händchen dafür, Potenziale von Tänzern zu erkennen und richtig zu fördern. Im Eiltempo katapultierte er seine Kompanie auf Exzellenzniveau. Originelle Eigenkreationen fürs Ensemble hatten noch gefehlt. Nun wurde auch diese Leerstelle gefüllt. Trotz Zeitknappheit bei der Erarbeitung – der derzeitige Probenschwerpunkt liegt auf Christian Spucks für November geplantem Handlungsballett „Anna Karenina“ – und finanziell eingeschränkten Möglichkeiten war kein Flop dabei! Die Tür zur Moderne öffnete sich mit rasantem Schwung zu stimmungsvollen Soundimpressionen vom Band, wunderbar groovig, formal gut durchstrukturiert und stark bewegungsverspielt.
Den Auftakt machte eine schöne (weil anders als erwartet) „Themaverfehlung“ des Münchner Demi-Solisten Dustin Klein. Seine Anfänge als Choreograf wagte er in der freien Szene. Dann kam ein Auftrag für das Bayerische Staatsballett II („DisTanz“). Diesen April konnte er beim „Junge Choreographen“-Abend der Noverre-Gesellschaft in Stuttgart mit „wer ko der ko“ überzeugen. So gut, dass darauf glatt ein Anruf des württembergischen Ballettintendanten Reid Anderson folgte. Aktuell probte er parallel zur Münchner „Junge Choreografen“-Premiere mit seinen darin besetzten Tänzerkolleginnen und -kollegen an seinem Abendfüller „Old News“, mit dem ihn das Origen Festival in der Schweiz beauftragt hatte (Uraufführung: 16. Juli).
„Mama, ich kann fliegen“ nennt Dustin Klein seine von einem Wald aus Lichtsäulen umrahmte Studie über Empfindungen und Erfahrungen, die einen abheben lassen – oder auch nicht. Wirklich durch die Luft preschen seine Interpreten selten. Sie befinden sich vielmehr auf eine körperlich eckige, dynamisch verbogene Art auf der Pirsch. Nach sich selbst, Partnern oder einer Gruppendynamik? Im Pulk, dicht aneinander gedrängt, ticken sie alle gemeinsam im Gleichschritt aus, um Momente später wild zuckend auf einer Lichtung aus changierenden Farbtönen durcheinander zu tanzen. Optisch greifen die vielen, fast zu schnell aufeinander folgenden Konstellationsideen, darunter mitunter solistische Beiträge. Inhaltlich bleibt der Eindruck eher vage. Dabei haben die drei Frauen und drei Männer eine Menge auszusagen.
Wie Klein zieht auch der als Halbsolist im Wiener Staatsballett aktive Andrey Kaydanovskiy (*1986) charakterstarke Nebenrollen den Prinzen und Helden vor. Nach ersten eigenen Projekten choreografierte er 2013 für das Wiener Staatsballett „Zeitverschwendung“ und „Das hässliche Entlein“. Zuletzt kreierte er für das Bundesjugendballett in Hamburg „Reversal“ zu einer Auftragskomposition von Michel van der Aa. Wer ihn nach Moskau empfohlen hatte, weiß Kaydanovskiy nicht so genau. 2016 jedenfalls feierte sein Stück „Tea or Coffee“ am dortigen Stanislavsky Theater Premiere, wo Igor Zelensky auf ihn aufmerksam wurde. Obwohl auch Dustin Klein mit einem Werk („X²“) vor Ort vertreten war, sind sich die beiden erst in München wirklich begegnet.
Als es darum ging, sich Tänzer auszusuchen, verpasste Kaydanovskiy wegen einer Zugverspätung das Training der Kompanie. Dann traf er Klein, besuchte eine von dessen Proben und fing Feuer für die Leute, die er darin tanzen sah. Kurzerhand entschloss er sich, seine Idee ebenfalls mit ihnen umzusetzen. Und auch sonst den Tipps des seit 2008 im Bayerischen Staatsballett beheimateten Kollegen zu vertrauen. So mischten Missgeschick und Zufall bei der Besetzungsentscheidung des gebürtigen Moskauers mit, der nach Ausbildungsstationen an der Bolschoi-Ballettakademie, am Ballettkonservatorium in St. Pölten, an der John-Cranko-Schule in Stuttgart und der Ballettschule der Wiener Staatsoper 2007 ins Ballett der Wiener Staatsoper und Volksoper engagiert wurde.
Worum es Kaydanovskiy in seiner Arbeit „Discovery“ geht, ist sofort klar. Zur Adele-Arie aus Strauß' „Fledermaus“ demonstriert Gruppentänzer Nicholas Losada fabelhaft Machtgehabe in Präpotenz. Unter der selbstgefälligen Verachtung des „Chefs“ leiden elf gehorsam-ergebene Büroangestellte. Allen voran der grandios spielstarke Solist Jonah Cook (Kaydanovskiy lässt ihn aus der Situation eines Bewerbungsgesprächs heraus in den Ablauf seiner Performance starten), dessen beherztes Umdenken dem Schlussstück des Abends letztlich die entscheidende Wendung gibt. Hintersinnig kurzweilig – diesen Halbstünder zu einem Soundteppich von Dmitry Cheglakov möchte man gleich nochmals sehen.
Im Sandwich der zeitgenössisch-skurrilen Klammer entfalteten zuerst der erst 23-jährige Schweizer Benoît Favre (die jüngste Neuentdeckung in Zelenskys interessantem Kreationsquartett) mit „Out of place“ zu Musik von Vivaldi (kombiniert mit elektronischen Einschüben und einer berückenden Großaufnahme der mitbeteiligten Solistin Severine Ferrolier), dann der seit 1999 dem Mariinsky-Ballett zugehörige Anton Pimonov ganz auf die Sprache des Tanzes konzentrierte Bilder. Schier unglaublich, wie viel stille, subtile Poesie Favre rein durch den weichen Fluss und die beeindruckende Linienführung von acht Tänzerinnen und Tänzern erreicht.
Als jüngster Familienzuwachs kam er zum Ballett, weil er seinen beiden älteren Geschwistern (die längst nicht mehr an der Stange stehen) nacheifern wollte. Seine Inspiration sind Bewegungsqualitäten von Meisterchoreografen wie Spuck oder Kylián. Sie prägten den seit der Spielzeit 2014/15 im Ensemble des Balletts Zürich engagierten Schweizer aus Neuchâtel. Doch weiß er sich von den Vorbildern mit eigenen Einfällen der Bühnengestaltung, Auftrittswegen und innovativen Anordnungen seiner Interpreten im Raum abzusetzen. Außerdem hat er für Pas de deux ein besonderes Faible. Tanz bei Favre kombiniert non-narrativen Inhalt mit ästhetischer Form und einem fließenden Stil. Im Auge behalten lautet hier die Devise! In der nächsten Saison will Benoît Favre, dessen zweigleisige Begabung Spuck in Zürich fördert, sich auch wieder verstärkt seinem Weiterkommen als Interpret widmen.
Pimonovs „Marimba Dances“ auf „Récit de voyage“ des zeitgenössischen russischen Komponisten Rabinovitch-Barakowsky lässt sich stattdessen in die Nähe der gewitzten Leichtigkeit eines Balanchine rücken. Schlicht, zugleich detailfreudig überbordend und im Ausdruck einen Touch verrucht. Das Tanzen stellte der Enddreißiger schon vor zwei Jahren ein. Die Erfahrungen, die er seither nur mehr aufs Choreografieren fokussiert gesammelt hat, sind seinem Œuvre anzusehen. Es ist das an diesem Abend reifste. Ein lupenreines Perpetuum mobile, das seine sieben Interpreten auf Spitze (Ksenia Ryzhkova, Kristina Lind, Prisca Zeisel) und in Luftsprüngen (Alexey Popov, Dmitry Vyskubenko, Konstantin Ivkin, Stefano Maggiolo) zum Strahlen bringt.
Ursprünglich wollte Pimonov, der einige der Tänzer aus St. Petersburg kennt, mit sechs Paaren an den Start gehen. Letztlich fehlte ihm innerhalb des dichten Proben- und Vorstellungsbetriebs der Münchner Tänzer dazu – leider – schlicht die Zeit. Schön geworden ist das Stück trotzdem. Und die Produktion sollte keinesfalls in der Versenkung verschwinden. Vielleicht wird Pimonov es irgendwann sogar für das vorgesehene Dutzend ausbauen.
Vom ästhetischen Gesamtergebnis her gesehen darf man Zelensky ein beachtliches Gespür für begabten Nachwuchs und einen international geschulten, scharfen Blick attestieren. Dustin Klein als hauseigener und die drei anderen Newcomer aus den zentralen Ensembles in Zürich, Wien und St. Petersburg haben mit ihren Choreografien für positive Überraschungen gesorgt. Alle vier verpassten der Münchner Kompanie in ihren völlig unterschiedlichen Stücken einen ungewöhnlich aktuellen Look. Bravi!
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