„Across context“
Start des International DANCE Festival 2025 in München
Trajal Harrell bildet zusammen mit Thibault Lac und Ondrej Vidlar das Schlusslicht des International DANCE Festivals in München
Von Emily Gleis
Das Publikum wird über eine Rampe in den Kunstbau vom Lenbachhaus in einen minimalistischen Bühnenraum gelockt: drei Stühle mit Mikrofonen, ein Ventilator, ein komplett weißer Hintergrund. Thibault Lac läuft nervös auf und ab, beobachtet das Publikum. Drei schwarze Kostüme hängen an einer Kleiderstange und wehen im Ventilator-Wind. Lac begrüßt das Publikum, erzählt, worum es in der Performance geht und was der Titel bedeutet. „M2M“ ist nur ein Teil einer langjährigen Serie namens „Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church“, die in acht verschiedenen „Größen“ existiert. Eine davon war bereits 2015 auf dem DANCE-Festival zu sehen: „Antigone Sr. / Twenty Looks or Paris Is Burning at The Judson Church (L)“. In allen anderen Inszenierungen lautet die Frage jedoch umgekehrt: Was wäre gewesen, wenn Tänzer*innen aus der bunten Tanz- und Modeszene von queeren Schwarzen in Harlem zur Judson Church gekommen wären – einem Zentrum für avantgardistische Tanzkunst?
Diese Einleitung sei nur eine mögliche Variante zu starten, witzelt Lac, dann beginnt die Performance: Rhythmische Musik ertönt, ein Remix von „Set Fire To the Rain“ (Adele). Lac tritt im schwarzen Kleid mit fließendem Stoff auf. Er setzt sich mit ernster Miene auf einen Stuhl, regungslos. Trajal Harrell folgt, ebenfalls in Schwarz gekleidet. Eine bedrückte Stimmung entsteht. Beide Männer beginnen langsam ein unbeschreibliches Leid in ihren Gesichtern zu spiegeln, während die Musik weiterspielt. Harrell beginnt zu sprechen, wird jedoch unterbrochen, als Ondrej Vidlar die Bühne betritt. „Will we survive?“, fragt Harrell – sich selbst, die anderen, vielleicht auch das Publikum. Die drei Performer tauchen ein in eine fiktive Welt: Sie sind Judson-Tänzer in Harlem, die anscheinend ihren sicheren Ort in Judson vermissen. Harrell singt zu melancholischer Musik, während Vidlar ständig „don’t stop“ wiederholt. Alle drei zeigen ihre Gefühle auf unterschiedliche Weise: Schmerz, Wut, Trauer, Melancholie. Das Publikum schaut konzentriert zu.
Zu „Another World“ (Anthony and the Johnsons) erheben sie sich, die Arme langsam wie im Gebet. Tränen kullern über Harrells Gesicht. Die Stimmung sinkt noch tiefer als sich die Performer niederlassen. „Don’t stop“ und „Mamma Said“ wechseln sich ab, während Harrell in schwingenden Bewegungen tanzt, sich immer wieder hinsetzt und voller Schmerz an die Stuhllehne lehnt. Auch Vidlar beginnt zu schwanken, während Lac wie festgefroren immer wieder das Mantra wiederholt, als müsste er es sich selbst einreden, um nicht zu zerbrechen. Gesang, Schauspiel und Tanz verschwimmen in einem intensiven Zwischenspiel.
Don’t think, Werk
Langsam erklingt fröhlichere Musik: „Stepping Stone“ von Duffy. Die Performer beginnen aufzustehen, zu posieren. Sie stolzieren durch den Raum, posieren auf den Stühlen, laufen wie Models auf einem Laufsteg. Arme schwingen, Körper pendeln, Blicke flirten mit dem Publikum. Der Ventilator wird wieder eingeschaltet, der schwarze Stoff flattert, während die Performer tanzen und immer wieder „Mama said don’t stop“ skandieren – jetzt im Rhythmus der Musik, mit noch mehr Ausdruck und Entzückung. „Don’t think, Werk!“, kommentiert Harrell. Seine Mittänzer feuern ihn an, während er in der Mitte posiert. Jeder darf einmal im Rampenlicht stehen. Bewegungen in Armen, Oberkörper, Beinen – ein Spiel mit der Musik, voller Energie und queerer Selbstermächtigung. Es wird getwerkt, auf das Publikum gezeigt, das inzwischen mit wippt. Pure Euphorie und Expression erfüllen den Raum. Die fiktiven Judson-Tänzer*innen sind in Harlem angekommen, wollen gar nicht mehr aufhören. „Don’t stop“ wird zum immer wiederkehrenden Ruf.
Doch plötzlich wird die Musik langsamer, leiser. Harrell und Vidlar setzen sich erschöpft, die Melancholie kehrt zurück. Das Mantra klingt nun wehmütig – vielleicht nicht mehr, weil Judson verlassen wurde, sondern Harlem. Sie singen und reden von Feuer, von Liebe, von Verlust. Harrell läuft in der Mitte umher, monologisiert über Schmerz und Distanz. An diesem Abend wurde nicht nur eine Zeitreise unternommen, sondern auch eine emotionale Reise von tiefer Traurigkeit bis zu ekstatischer Freude. Die Performance macht spürbar, wie es sich anfühlt, den vertrauten Raum zu verlassen, neue Räume zu betreten – und zugleich festzustellen, dass das Ankommen selbst brüchig bleibt. So wird aus einer Frage ein eindringliches Statement: „Don’t stop to dance.“
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Dieser Text entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung „DANCE – Schreiben über Tanz“ am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München im Sommersemester 2025 unter der Leitung von Anna Beke.
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