Hirn unter Dampf
Uraufführung von „Transfigured“ von Rykena/Jüngst im Rahmen des Münchner Rodeo Festivals
Huch, hat sich da etwas bewegt? Einer der steinartigen Knubbel, die am anderen Ende des Raumes auf einem Podest liegen, ist heruntergerollt. Doch die rote Kordel, die uns kurz nach dem Eingang schon wieder gestoppt hat, verhindert, dass wir nachschauen können, was die Ursache der Bewegung war.
Die Frage im eigenen Kopf und die Unmöglichkeit, ihr gleich nachzugehen, weben das Spannungsfeld für „THINGS am Ende der Welt“, Alfredo Zinolas neues Kinderstück, in dem der in München und NRW situierte Tänzer und Choreograf nach längerer Zeit mal wieder etwas für ganz Kleine ab zwei Jahren macht. Seile, Steine und ein beuliger großer Ball aus zusammengenähten Plüsch-Pelzchen sind die Protagonisten, Salome D’Attilia und Zinola selbst ihre Hüter und Zeremonienmeister. Und da ist noch diese Behauptung, die mit im Titel steht: Dass wir uns mit ihnen gemeinsam „am Ende der Welt“ befinden, gleichsam als Zaungäste in einer Zukunft, in der es uns nicht mehr gibt. Zumindest für die Erwachsenen, ohne die Kinder dieser Altersgruppe ja selten ins Theater gehen, schwebt sie wie eine sanfte Mahnung über der kurzen Performance. Etwas ältere Kinder werden den Titel vermutlich eher unapokalyptisch und lokal lesen: Was ist da, wo wir nie hinkommen? Steine, Geröll, tote Materie. Doch was heißt schon „tot“ für die für alles offene Fantasie eines Kindes?
Als graduierter Kulturanthropologe kennt Zinola natürlich die relationale Ontologie und Verantwortungsethik einer Donna Haraway und den Gedanken inzwischen einiger Theoretiker, den Menschen aus dem Zentrum der Welt und näher an andere Spezies heranzurücken. Nun sind Steine zwar keine Spezies. Aber verdienen sie deshalb keine Aufmerksamkeit? Das ist die Frage, die dem kurzen Stück zugrunde liegt, das damit – und ab jetzt kann man den ganzen Theorieballast auch wieder abschütteln – zu einem Aufmerksamkeits-Labor im Kleinen wird. Sicher mit aufklärerischen Hintergedanken, aber ganz undidaktisch und sehr konkret.
Denn die Art, wie Alfredo und Salome Menschen und Dinge behandeln, etabliert eine Form der Gleichheit zwischen ihnen, ohne die Menschen zurückzusetzen. Mit einem freundlichen Lächeln werden die Besucher*innen von den beiden in Kleinstgruppen an ihre rund um die Spielfläche verteilten Plätze geleitet, dabei umfangen und geführt von demselben Seil, mit dessen Hilfe auch die Steine bewegt werden. Mein Erwachsenenblick assoziiert sofort kleine Schäfchen, die sich willig zur Schlachtbank führen lassen. Aber kann ein Seil nicht auch ein Instrument des Schutzes und der Zärtlichkeit sein? Derart widersprüchliche Assoziationen, Gedanken und Gefühle sind zugelassen und bauen an dem besonderen Erfahrungsraum mit. Denn wo Widersprüche sind, bleibt auch das Interesse wach. Etwas, was gerade Aufführungen, die sich selbst als besonders „kindgerecht“ rühmen, oft vergessen.
„THINGS“ aktiviert die vorurteilsfreie Neugier der Kleinsten und lenkt sie auf das, was sonst gerne übersehen oder skandalisiert wird. Die beiden Performer*innen ziehen und drehen anfangs auch die Steine mit Hilfe der Seile über die Bühne. Später tragen sie sie in Lichtkreise auf dem Boden, nur eine Kinderarmlänge von den Zuschauer*innen entfernt. Ein vorheriger kurzer Blickkontakt fragt sie um Erlaubnis. Und dann Spot auf das Ding, das bei genauerer Betrachtung Einschlüsse und Rauheiten aufweist – manche von ihnen sogar bunte Adern und Moosbewuchs – und also eine Geschichte hat, auch wenn es in diesem Fall nur ein Theaterutensil aus Pappmaché ist. Salome schmiert einen schimmernden Batzen Slime auf die derart exponierten Steine. Ein Oberflächen-Clash und eine Minimal-Bewegung, denn die glatte, schleimige Substanz kriecht in die Ritzen und langsam auch am Stein herab. Alfredo tanzt wie ein Partner der Steine mit ihnen über den Boden oder schultert sie wie Atlas, der Weltenträger. Und die Materialperformance wird tänzerischer, als er langsam durch den Raum zirkelt und die Steine dabei wie Zweit- und Dritt-Köpfe vor die eigene Stirn hält oder bis zu fünf von ihnen auf Schultern und Armen balanciert. Die Behauptung, dass sie schwer sind, spielt er mit. Dabei hat man sie zuvor schon als leicht erlebt. Noch so ein Widerspruch.
Die Gastlichkeit der beiden und ihr freundliches Lächeln stehen im Kontrast zu ihrem zeremoniellen Verhalten und zur zumindest seltsamen Situation, die noch von der repetitiven, ein wenig an den Nerven zerrenden Musik angeheizt wird. Beides zusammen aber fördert die Aufmerksamkeit. Man wohnt offensichtlich nichts Gewöhnlichem bei, auch wenn das Stück dezidiert antispektakulär ist.
Antispektakulär auch in der Weise, wie die Performer sich selbst präsentieren. Alfredo Zinola sitzt viel als Beobachter zwischen den Zuschauern. Und wenn er dem Fellball mit seinen Händen Leben einpumpt, wirkt es bald so, als sei er es, der ihm hinterherhetzen muss, wenn der Ball davonhoppelt. Und Salome D’Attilia, im realen Leben ein*e Münchner Friseur*in, ist einfach, wer sie ist: Eine unalltäglich schick gekleidete Frau mit tiefer Stimme und rotem Kostüm, freundlich und schon auf Du und Du mit den Dingen, die wir erst kennenlernen müssen. Bevor Kinder mit Hexen- und Ammenmärchen verdorben werden und in gesellschaftlichen Institutionen „lernen“, was „richtig“, „schön“, „wertvoll“ oder das Gegenteil davon ist, kann kommen, was da wolle und ihre Neugierde ist bereit. Und allein durch ihre Dramaturgie gibt diese kleine Performance auch eine Antwort auf die Frage, wie man sich dem noch nicht Vertrauten nähert: Nämlich langsam, respektvoll und mit wachsendem Mut.
Things am Ende der Welt. Ein Tanzstück über Menschen und ihre Beziehung zur Natur
Noch am 2. Februar, 10 Uhr, 3. Februar, 16 und 19 Uhr, und 4. Februar, 16 Uhr
HochX Theater und Live Art, Entenbachstraße 37
Weitere Vorstellungen
22.-24. Februar 2024, Tanzhaus nrw, Düsseldorf
6.-7. April 2024, 2turvenhoog, Almere (NL)
11.-18. Oktober 2024, FRATZ Festival, Berlin
März 2025, BimBam Festival, Salzburg (A)
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