Jenseits von schwarz und weiß
Osiel Gouneo stellt seine Autobiografie vor
Punkt 12 Uhr zeigt sich ein weißes Herz am blauen Himmel. Gleichzeitig erklingen Gassenhauer der Opernliteratur auf den Stufen der weitgeöffneten Tore des Nationaltheaters – Mitsingen erwünscht. Einmal mehr heißt es: „Musik, Oper, Tanz für alle“ das Credo, das sich die Bayerische Staatsoper auf die Fahnen schreibt und so während des Eröffnungswochenendes in Opern- und Tanzvorstellungen, kleinen Konzerten, Kinderprogrammen und Ausstellungen Appetit auf die Spielzeit 2024/25 macht.
Wer einen Einblick in den Berufsalltag von Balletttänzer*innen bekommen möchte, hat die Möglichkeit, am Samstagmorgen dem öffentlichen Training des Bayerischen Staatsballetts beizuwohnen. Eindrücklich wird den Zuschauenden vermittelt, welche Präzision, räumliches Denken und Koordination von den Tänzer*innen gefragt wird. Für die ‚Qualitätskontrolle‘ an diesem Vormittag sorgt Trainingsleiterin Isabelle Guérin, ehemalige Danseuse Étoile des Ballet de l'Opéra de Paris. Ihrem Adlerauge entgeht nichts. Unerbittlich, immer mit großem Respekt den Tänzer*innnen gegenüber korrigiert sie. „La cinquième“, „benutze den Boden!”, „nose – toes“, „Turnout“, „use the music“. Die musikalische Untermalung von Simon Murray am Klavier reicht von „Popcorn“ bis „Schostakowitsch“.
Für die Kleinsten großes Theater: Franziska Angerers „Wie der Fisch zum Meer fand“
Die Inspiration durch Musik – in diesem Fall aus elektronischen Klängen, die das Blubbern des Wassers nachahmen – spüren auch die Kleinsten, die in das Tanzstück „Wie der Fisch zum Meer fand“ abtauchen. Sie begleiten einen Fisch im Wasser, der so intensiv darüber nachdenkt, warum er schwimmen kann und gerade deshalb beinahe das Schwimmen verlernt hat. Literarische Vorlage ist die englische Bilderbucherzählung von Alan Watts aus dem Jahr 1944 mit dem Titel „The Fish who found the Sea“, dessen tänzerische Adaption Regisseurin Franziska Angerer bereits 2021 im Nationaltheater zur Uraufführung brachte. Hier beim UniCredit Septemberfest tanzen den anmutenden Fisch-Pas-de-Deux Theresa Goede und Giovanni Corrado. Neben der altersgerechten Sprache und kleinen Wortspielen, die auch Erwachsene zum Schmunzeln bringen, sind es die einfachen, fließenden Bewegungen, die die Kinder zum Mitmachen und Imitieren anregen. Die Idee bei diesem Mutmachstück, den Königssaal der Staatsoper in einen Meeresboden zu verwandeln, ist so einfach wie einfallsreich.
Ein Tanzstück im Comic: „Sakuntalas Ring“ von Anoosha Shastry
Auch Kinder und Jugendliche ab 10 Jahren kommen auf ihre Kosten. Zum Mitmachen oder Zuschauen lädt Anoosha Shastrys Tanzstück „Sakuntalas Ring“ ein. Die aus Indien stammende Tänzerin gestaltet die Legende um die Figur Sakuntala aus Kalisadses gleichnamigem Drama mit Elementen des Bharatanatyam, auch klassischer indischer Tanz genannt. Auf der Bühne stehen Laientänzer*innen unterschiedlichen Alters, die das Stück in einem Workshop unter Shastrys professioneller Anleitung durch eigene szenische Ideen und choreografische Muster, Gestik und Mimik angereichert haben. Künstlerisches Highlight des Stücks sind die eingewobenen Graphic Novels. Sieben internationale Illustrator*innen wurden beauftragt, Zeichnungen zu je einem Akt anzufertigen. Die beeindruckenden Illustrationen, die zwischen naturalistisch-lieblichen und abstrakt-düsteren Interpretationen changieren, sind noch auf der Website des Staatsballetts zu bewundern.
„Wurzeln und Blätter“ – Zwischen Klassik, Komik und Kontemplation
Das künstlerische Highlight für die Ballettfans ist an diesem Wochenende sicherlich der mehrteilige Abend „Wurzeln und Blätter“ mit Ausschnitten aus dem Repertoire des Bayerischen Staatsballetts. Eröffnet wird er mit „Ma Pavlova“, einer Hommage nicht nur an die berühmte russische Starballerina, sondern an das klassische Ballett per se. Zu bewundern sind Maria Baranova und Ariel Merkuri, die mit dem Pas de Deux aus Roland Petits „Ma Pavlova“ nach Massenets Opernmusik „Thaïs“ Romantik, Anmut und Eleganz miteinander verbinden und damit auch die Ästhetik der Pawlowa abbilden.
Eine originelle Neuinterpretation das Shakespear’schen Dramas „Romeo und Julia“ schließt sich an. In „Radio und Juliet“ von Edward Clug lässt Juliet die Ereignisse ihrer Jugend zur Musik der englischen Rockband „Radiohead“ Revue passieren, daher auch der Titel. Ksenia Shevtsova und Jakob Feyferlik überzeugen in ihrer dynamischen, erotisch-sinnlichen Tanzsprache mit kantigen und teilweise minimalistischen Bewegungen. Ein effektvolles Lichtkonzept lässt die Leistungen des Tänzerpaares noch mehr in den Fokus rücken.
In Ben van Cauwenberghs „Les Bourgeois“ kommt António Casalinho quasi aus dem Nichts daher und fasziniert mit nicht enden wollenden Lufttouren und ausdrucksstarken Tanzbewegungen. Zigarettenpaffend, slapstickartig macht er sich lustig über das Establishment und stimmt damit humorvoll ein in die Gesellschaftskritik von Jacques Brels und Jean Cortinovis (Musik & Text).
Von anderer interpretatorischer Aussage und immenser Ausdruckskraft zeugt Angelin Preljocajs Beziehungsdrama „Un trait d’union“. Beeindruckend agiert das Duo Severin Brunnhuber und Konstantin Ivkin. Mit exzellent ausgeführten Sprüngen und Hebungen – sogar aus der Bauchlage heraus – zu Bachs Largo aus dem „Klavierkonzert BWV 1056“ halten die Beiden mit ihrer technischen wie künstlerischen Meisterleistung das Publikum in Atem. Das spannungsgeladene Werk „Trait d’Union“ – auf deutsch ‚Bindestrich‘ – geht über ein klassisches Beziehungsdrama weit hinaus, berührt philosophische Ebenen und damit auch das Publikum.
Auch der letzte Teil des Abends, „Skinny Hearts“ von Edouard Hue, befasst sich mit philosophischen Fragen. Uraufgeführt wurde es in der vergangenen Spielzeit im Rahmen von „Sphären 02“. Der Konflikt Mensch, Maschine und Individualität wird eindringlich sichtbar gemacht: Es sind hastige Bewegungen, Massenszenen und eine kontrastreiche Lichtregie, die eine bedrückende Atmosphäre erzeugen und das Publikum nachhaltig nachdenklich stimmen.
Die Arbeit des Bayerischen Staatsballetts war an diesem Eröffnungswochenende in eindrucksvoller künstlerischer und formaler Vielfalt zu erleben. So darf das Publikum gespannt sein und zuversichtlich in eine neue, inspirierende Spielzeit blicken.
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