Jenseits von schwarz und weiß
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Wiederaufnahme von Christopher Wheeldons „Alice im Wunderland“ in München
Zauberhaft routiniert hatte das Bayerische Staatsballett seine Saison Anfang Oktober eröffnet – ganz unaufgeregt mit Christopher Wheeldons „Cinderella“. Im Dezember wird man mit dieser aufwendigen Produktion ein allererstes Mal in Baden-Baden zu Gast sein. Debüts gab es noch keine zu bestaunen. Anders sah das bei der von Wheeldon als Choreograf selbst mitbetreuten Neuaufnahme seiner „Alice im Wunderland“ aus – dieser famos-skurrilen Überforderung des Publikums durch szenischen wie darstellerischen Detailreichtum. Hier muss man öfters wiederkommen, um die irrsinnige Inszenierung des Lewis-Carroll-Märchens in all ihrer fantasievollen Fülle überhaupt einigermaßen erfassen zu können.
Die Geschichte endet schlicht wie ein aberwitziger Traum in der Gegenwart. Ihr Anfang spiegelt dagegen die viktorianische Zeit des in das Tanzstück hineinchoreografierten britischen Schriftstellers und Fotografen Carroll wider, der sich im ersten Akt quasi magisch höchstpersönlich in das immerfort zeitgestresste weiße Kaninchen verwandelt. In dieser tragenden Rolle lösen sich nun absolut bravourös Halbsolist Ariel Merkuri (niemand bläst glaubhafter ins stumme Horn als er) und Solist Shale Wagman ab. Letzterer performt wie ein Präzisionsinstrument. Wagman reizt sein technisches Können unter der Maske stets bis zum Limit aus.
Wäre „Alice“ kein Ballett, sondern ein Cartoon, flögen einem irren Tänzer wie Wagman irgendwann explosionsartig lauter Schrauben und Stahlfedern um die Ohren. Er behält aber jede Muskelfaser im Griff. In atemberaubender Vollendung beherrscht er seinen Körper. Nur den zum Portschlüssel aufgeklappten Koffer reißt es mit in die Tiefe, als Wagman in der mitgefilmten Aufführung am 15.10. in die Versenkung – den zur Phantasiewelt führenden Tunnel – hechtet. Für den international abrufbaren „on demand“-Sendetermin hatte man hinterher allerdings bei dieser Szene getrickst bzw. nachgebessert: Wagman lässt Alice kopfüber und die Beine zur Decke ganz nach Plan durch die braune Taschenmauer hindurch. Live bleibt eben live!
Wenn Wagman gerade nicht den langohrigen Zeremonienmeister der furiosen Herzkönigin (neu in dieser Paraderolle des Übertreibens und auf ihre Weise unnachahmlich witzig: Elvina Ibraimova) zu interpretieren hat, tanzt er – als Alternativbesetzung – den verrückten Hutmacher im wilden Kartenspiel-Akt. Ihren großen Auftritt hat die schrille Figur auf einer kleinen Mini-Bühne im mittleren Teil – flankiert vom schnodderigen Märzhasen (Florian Ulrich Sollfranks) und jenem selten lange wachen Siebenschläfer, den Madeleine Dowdney seit der ersten Münchner Vorstellung so herrlich pantoffelverträumt verkörpert.
Der steppende Hutmacher ist das klackernde Herzstück in Wheeldons ausgelassener Tee-Party. Shale Wagman spielte ihn am Wiederaufnahme-Abend verschroben-schaurig wie einst Johnny Depp in der Verfilmung von Tim Burton. In der live aufgezeichneten Vorstellung gab Tausendsassa António Casalinho unter dem breitschultrigen pinken Manteljacket sein Debüt und überzeugte – smarter, etwas lockerer und dennoch in seiner Ausstrahlung streng – gleichfalls. Die nahezu ununterbrochen auf der Bühne präsente Titelpartie hatten Laurretta Summerscales und erstmalig Madison Young (zu sehen im Stream) übernommen. Zwei Top-Besetzungen, die bei der Rollenausgestaltung durchaus eigene Akzente zu setzen wussten. Young zum Beispiel mit Momenten von kindlichem Ehrgeiz oder Schulterzucken, wenn sie mit ihren eigenen Handlungsimpulsen einfach nicht weiterkommt.
Der burschikose junge Jack und charmante Herzbube an Summerscales Seite ist der Erste Solist Julian MacKay. Fast mühelos und ohne viel Verstellung bewältigte er die teils recht vertrackte Partie, die seinem Tänzerwesen bestens zu Gesicht steht. Dagegen wirkte Jakob Feyferlik, der in Wien ausgebildet wurde und beim dortigen Staatsballett seit 2013 eine steile Karriere hinlegte, erst einmal prinzenhafter. 2020 war Feyferlik als Erster Solotänzer zum Niederländischen Nationalballett gegangen. Zu Beginn dieser Spielzeit wechselte der Österreicher zum Bayerischen Staatsballett und eroberte nun bei seinem Haus- und Rollendebüt als Youngs Partner das Münchner Publikum im Sturm. Gemeinsam präsentieren sie ein emotionales, überaus spielfreudiges Spannungsgefüge und haben sichtlich Spaß an der Entwicklung ihrer Figuren. Zum Schluss steht Feyferlik in Jeans da. Er ist kein Prinz, keine Märchengestalt mehr: bloß noch ein Verliebter, der Ballett und das Partnern supergut kann. Man darf auf seine weiteren Aufgaben bei uns gespannt sein.
Dass die meisten Partien – einige sogar doppelt – völlig neu besetzt wurden, passt gut. Das Publikum hat die (Qual der) Wahl. Der jeweilige Cast wird frühzeitig veröffentlicht. Das ist Laurent Hilaire als Service wichtig, seit er als Ballettdirektor die Geschicke der Kompanie leitet. Warum er den aufwendigen Dreiakter nach vier Jahren Pause ausgerechnet in seine erste selbstbestimmte Spielzeit zurückholt? Die Verträge des 2017 von seinem Vorgänger ins Repertoire geholten Werks sähen dies so vor, meinte Hilaire im Sommer lachend.
Der Zeitpunkt für die vermutlich vorerst letzte Wiederaufnahme scheint gar nicht so schlecht. Die Kompanie hat sich verändert und trotz personeller Wechsel konsolidiert. Ein leichter Wandel ist spürbar. Wohin die Entwicklung letztlich gehen wird, ist noch relativ offen. Ein Werk wie Wheeldons „Alice“ schweißt ein Ensemble jedenfalls künstlerisch zusammen. Am Bildschirm jedenfalls ließ sich dies wie unter einer Lupe mitverfolgen.
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