Verdient
Goyo Montero erhält Bayerischen Verdienstorden
Gleich zweimal lässt Goyo Monteros am Staatstheater Nürnberg Ballett tänzerisch die Sektkorken knallen.
Mitreißender als dieses Jahr in Nürnberg kann die Spielzeit eines Tanzensembles kaum ausklingen. Die pandemiebedingte Verschiebung der IV. Internationalen Ballettgala kam als Verstärkung hinzu, traditionell ausgerichtet vom Förderverein „Ballettfreunde Staatstheater Nürnberg e.V. unter der künstlerischen Leitung des Spartenleiters Goyo Montero.
IV. Internationale Ballettgala
Da der ursprüngliche Termin der Nürnberger Ballettgala der ersten Lockdown-Phase im Jahr 2020 zum Opfer gefallen war, rutschte die regulär alle zwei Jahre stattfindende Begegnung des hauseigenen Ensembles mit Gästen aus aller Welt ganz ans Ende der Spielzeit 2022/23. Erstaunlich dieses Mal: Tanz in seiner zeitgenössischen Ausprägung berauschte das Publikum schon im vor Energie berstenden ersten Teil. Eröffnet wurde der Abend von den gruppenstarken Gastgebern selbst mit einem Ausschnitt aus Monteros aktuellem Ballett-Knüller „Goldberg“. Zu sehen waren Chaos und das Wiederfinden von Ordnung in Kaskaden, individuelle Turns und niemals vorhersehbare Staffelungen im Raum. Goyo Montero ist ein Meister darin, sein Ensemble ständig anders und neu durch den Raum schleichen, springen, sprinten und sich gegenseitig – emotional aufgeladen – jagen zu lassen.
Weiter ging es mit einer traumwandlerisch schön getanzten Nummer des Balletts Zürich. Elena Vostrotina und Cohen Aitchison-Dugas hatten Christian Spucks Pas de deux aus „Nocturne“ mitgebracht. Giovanni Visione, Shawn Wu und Luca Pannacci rockten ihrerseits den Saal mit Lejandro Cerrudos furiosem Triple-Solo „Pacopepepluto“. So liebt man Gauthier Dance Stuttgart – 2023 ebenfalls im 15-Jahre-Jubiläumfieber und natürlich at its best! Luiza Lopes vom Schwedischen und Lucas Lima vom Norwegischen Nationalballett ließen die Zuschauer danach wieder etwas zur Ruhe kommen – mit Wheeldons elegischem „This Bitter Earth“: ein Duett auf Spitzen. Carlos Acosta – an dessen kubanischer Ballettschule in Havanna einst auch der Madrilene Goyo Montero ausgebildet wurde – hatte als Chef des Royal Ballett Birmingham Céline Gittens und Brandon Lawrence nach Mittelfranken entsandt. Die beiden erwiesen sich als ein interessantes Paar, das in einem innigen Pas de deux aus Ben Stevensons „End of Time“ zu berühren wusste.
Die Freundschaft Monteros mit der großartigen Diana Vishneva geht auf die Begegnung der beiden als frühere Gewinner des Prix de Lausanne zurück. Vor der Pandemie war die Ballerina schon einmal für eine Zusammenarbeit in Nürnberg zu Gast. Nun reiste sie für die Uraufführung eines ausdrucksvoll intimen Pas de deux’ mit dem Titel „Interval“ im zweiten Teil an. Hier stellt Montero das Widersprüchliche in einem Beziehungsgeflecht zwischen Frau und Mann (Lucas Axel) zu Musik von Arvo Pärt choreografisch heraus. Vor der Pause hatte Vishneva noch – getaucht in das von Tänzern bewegte Licht von sechs Taschenlampen – eine Montero-typische Passage ihrer Rolle aus dem Stück „Maria“ getanzt.
Warum Nürnbergs Ballettchef so gerne Power-Stücke – wie erst kürzlich Strawinskys „Feuervogel“ für Les Balletts de Monte Carlo – erarbeitet, wurde jedem schlagartig klar, als Alessandra Tognoloni und Franceso Mariottini die Bühne betraten. Sie lieferten sich einen tolldreisten Schlagabtausch und weckten zugleich Begeisterung für Jean-Christophe Maillots sehr individuelle Version der „Widerspenstigen Zähmung“. Der komplette Abendfüller könnte es wohl durchaus mit John Crankos deutlich älterer Fassung aufnehmen.
Nach der Pause wurden neben Eric Gauthiers Solo aus „ABC“ (Shori Yamamoto) und Forsythes „In the middle somewhat elevated“ (als zweiter Auftritt der Gäste aus Zürich) noch drei klassische Highlight-Nummern nachgereicht. Das schwedisch-norwegische Ballett-Tandem Lopes/Lima punktete mit „Romeo und Julia“ (Balkonszene in der weniger bekannten Choreografie von Michael Corder). Alessandra Tognoloni tanzte als Maillots Cendrillon barfuß an der Seite ihres Partners Mariottini. Und das Paar aus Birmingham beschloss den Abend mit dem Täuschungs-Pas de deux des Schwarzen Schwans aus Petipas/Tschaikowskys schier unverwüstlichem „Schwanensee“.
Dergestalt rundeten sich Monteros bislang 15 Nürnberger Direktionsjahre. Unglaublich, aber wahr: Er, der ja selbst vom klassischen Ballett kommt, soll laut eigener Aussage während seiner gesamten Tänzerkarriere kein einziges zeitgenössisches Ballett-Training absolviert haben. Zu seiner inzwischen überaus markanten, modernen eigenen Tanzsprache muss er daher völlig selbstständig gefunden haben: durch Recherche, Bewegung und die kreative Zusammenarbeit mit verschiedenen anderen Choreografen. Inhaltlich spiegelte sich Monteros Vernetztsein in der Welt des zeitgenössischen Balletts in den 14 Teilen des Galaprogramms gut wider. Unerwartet erwies sich diese IV. Internationale Ballettgala als ideale Ergänzung der eine Woche zuvor von Goyo Montero präsentierten letzten Premiere „Boîte en valise“ dieser bewundernswerten Nürnberger Jubiläumssaison.
„Boîte en valise“ („Schachtel im Koffer“)
Seit seinem Amtsantritt 2008 als Chef des Staatstheater Nürnberg Balletts ist es Goyo Montero mit einem gerüttelt Maß an Beharrlichkeit gelungen, eine per se nicht unbedingt für Tanz eingenommene Stadt in eine Ballettmetropole zu verwandeln. Unter anderem für diese Leistung wurde dem Spanier erst kürzlich am 4. Juli in München vom Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst die Auszeichnung „Pro Meritis Scientiae et Litterarum“ verliehen. Völlig zu Recht!
Zum Ausklang seiner 15. Spielzeit konnte Montero am 13. Juli zu einem bemerkenswerten Premieren-Finale einladen. Der Jubiläumsabend trug den schönen – von Marcel Duchamp entlehnten – Titel „Boîte-en-valise“ und unterscheidet sich schon allein durch seine bemerkenswerte Kürze von anderen ambitionierten Festprogrammen. Montero, der diesmal – anders als zur Feier seiner ersten Dekade – das eigene Œuvre hintanstellte, kam für eine beeindruckend vollgepackte und zugleich kurzweilige Aufführung mit Rückblicken auf Arbeiten von Mauro Bigonzetti, Nacho Duato, Mats Ek, Alexander Ekman, William Forsythe, Johan Inger, Ohad Naharin und Christian Spuck mit bloß eineinhalb Stunden inklusive einer Pause aus. Hier glückte es Montero, vor allem prägnant-knackige Passagen auf die Bühne zu bringen, die seine bewegungstechnisch versierte Kompanie seit ihren Anfängen bis heute maßgeblich geprägt haben. Seinen Tänzerinnen und Tänzern hätte man bei diesem Stil-Hopping von Perle zu Perle einer quasi bis zum raffinierten Verschluss fein geknoteten Kette allzu gern noch wesentlich länger zugeschaut. Das Staatsoper Nürnberg Ballett schoss ein Brillantfeuerwerk ab, das gerade wegen seiner temporeichen Impulse lange im Gedächtnis haften bleiben wird.
Den Auftakt zur Premiere gab Nürnbergs Kulturbürgermeisterin Julia Lehner, eine bekennende Verehrerin der Kompanie. Ihre empathisch-enthusiastische Ansprache krönte sie mit der Enthüllung eines gelben Straßenschilds mit der Aufschrift „Goyo Montero. Ballettstadt Nürnberg“. Der Saal tobte, noch bevor sich der Vorhang zum ersten Beitrag hob. Monteros Vertrag wurde aktuell bis 2028 um weitere fünf Jahre verlängert.
In den insgesamt acht Werkausschnitten war eine schillernde neue Generation von performativ rundum starken Tänzer*innenpersönlichkeiten am Start: Jeder und jede einzelne hungrig auf all die Rollendebüts dieser Wiederaufnahme-Revue. „Boîte-en-valise“ erinnert an ein zwangloses Pop-Up-Konzept: Niemand fühlt sich von der Fülle des Inputs erschlagen, Kenner*innen öffnet sich jedoch ein Fenster für den Blick zurück.
Zum Beispiel auf Mats Eks schräges „A Sort of…“ zu Musik von Henryk Górecki. Die absurde Episode, in der die in einem wollig-gelben Rock steckende Frau (Lisa Van Cauwenbergh) abrupt ihren Partner (Edward Nunes) verlässt und mit nassen Haaren von ihrem Kurztrip in die Kulissen zu ihm zurückkehrt, hatten wohl die meisten komplett vergessen. Genau wie den amüsanten Abgang über die Seitenloge des in ein kurioses Techtelmechtel verstrickten Paars mitsamt entsicherter Wasserpistole. Ein typisch herrlich-melancholischer Passus von Mats Ek.
Am Beginn des bündigen Jubiläumsprogramms stand Johan Inger. Das Wiedersehen mit seinen „Rain Dogs“ glich einer Explosion von Individualität im amerikanischen Retrolook. Eine technische Herausforderung sondergleichen bedeutete Forsythes „Approximate Sonata“ für Jay Ariës und Renata Peraso – zumal Montero seine Tänzerinnen selten auf Spitzenschuhen ins Rampenlicht schickt. Dem ikonischen Stück gerecht zu werden, gelang dem Paar vollauf. Zudem machte es deutlich, dass viel dazugehört, einen ständig aus der Achse kippenden Pas de deux wie diesen quasi aus dem Ärmel zu schütteln.
Da hatte es Edward Nunes technisch leichter mit seinem Ausflug in Ekman „Tuplet“-Welt, in der Stimmen aus dem Off, Atemgeräusche des Interpreten und ein schwarz im Gegenlicht movender Body das Publikum schon dank der puren Macht des Rhythmus überwältigen.
Naharins wilder, impulsiver Blockbuster „Minus 16“ hat es mittlerweile sogar bis auf die Bühne des Berliner Friedrichstadtpalasts in die Show „Arise“ geschafft. Die Nürnberger Crew im Stuhlhalbkreis zu beobachten, wie sie sich gegenseitig anstacheln, aufspringen und sich die Klamotten von Leib reißen, lässt den bloßen Showcharakter weit hinter sich und bekommt noch ganz andere Tiefendimensionen. Das ausverkaufte Haus bedankte sich mit einem Applaus-Tornado.
Das Trio für Nicolás Alcázar, Oscar Alonso und Carlos Blanco aus Nacho Duatos „Duende“ (Musik: Claude Debussy) führte einem vor Augen, wie wenig es eigentlich für ein Meisterwerk braucht. Tanz ist bewegte Skulptur. Am Ende stehen drei Faune in blauen Trikohosen Kopf. Ihre Beine sind zu Dreiecken gefaltet. Mittig ragen die angewinkelten Beine in die Luft. Die Männer rechts und links haben jeweils ein Knie seitlich am Boden angedockt. Perfekte Geometrie für ein letztes statisches Bild, in dem viel Humor nachklingt.
Klarheit abstrakter Former hier, quirlige Lebensfreude dort. Natürlich durfte ein Ausschnitt aus Bigonzettis wilder „Cantata“ zu süditalienischen Canzones der weiblichen Folkoregruppe „Assurd“ nicht fehlen. Plötzlich geht es auf der Bühne ungehobelt roh zu. Die Füße bohren sich regelrecht in die Erde und Körper schnellen scheinbar unkontrolliert in die Höhe. Der Beitrag war schon eine Wucht.
Der Abend hatte aber noch eine Steigerung parat: Musikalisch zusammengehalten durch Frédéric Chopins berühmte Klavier-Etüden hatte Goyo Montero noch eigens sechs atemberaubend intensive choreografische Miniaturen geschaffen, die in unterschiedlich kleinen bzw. großen Besetzungen persönliche Momente seines Wirkens als Tanzspartenleiter beleuchten sollten. Darunter Freude, Wut oder das bittere Gefühl von Verlust durch den Tod des Vaters. Montero erzählt davon – wie zuvor und danach, angefangen beim athletisch-spritzigen Eröffnungssolo „Then“ für Andy Fernández bis hin zum nicht einmal minutenlangen Ensemble-Rausschmeißer „Now“ – ganz abstrakt und doch eindringlich in einem Duo zweier Tänzer, die gemeinsam einen Weg beschreiten. Man stützt, schleppt und hilft sich gegenseitig wieder auf. Irgendwann im Verlauf der gemeinsamen Runden werden schleichend die Rollen des Stärkeren und des Schwächeren getauscht. Am Ende gesellt sich ein dritter hinzu, vielleicht stellvertretend für Monteros kleinen Sohn. Oder Nicolás Alcázar, Oscar Alonso und Edward Nunes lassen andere Assoziationen in den Köpfen der Zuschauer entstehen – wie das solche kraftvollen, bestechend-poetischen Choreografien meist problemlos vermögen.
Und noch etwas zeichnet die einerseits den Abend rahmenden, andererseits dessen einzelne Nummern lose verbindenden Montero-Stücke aus: das innere wie äußere Licht, in dem sie leuchten und von dessen magischen Stimmungen die Interpreten bisweilen geradezu architektonisch gefasst werden. Da ist man einfach glücklich.
Ein ausführliches Interview mit Goyo Montero finden Sie hier.
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