Der Halloween-Effekt in uns allen
Jamine Ellis’ „Everything that’s Wrong with Me” im Münchner HochX
Von Mark Hebell
Ein transparenter Gazevorhang trennt den dunklen Zuschauerraum vom völlig schwarzen Tanzbereich. Chatverläufe in Computerschrift werden auf ihn projiziert und führen ein in das Thema von Jasmine Ellis‘ Reality Warping, findet der Chat doch zwischen einem Menschen und einer Künstlichen Intelligenz statt. Realität und ihre (De)Konstruktion, die eigene Identität in der virtuellen und in der analogen Welt, darum geht es der aus Kanada stammenden, dort und in den Niederlanden ausgebildeten, mittlerweile in München lebenden Choreografin und ihrer Gruppe aus vier Tänzer*innen und zwei Musiker*innen.
Ist das, was ich sehe, Realität – und wenn ja, wie viele? Diese Frage möchte man sich gleich zu Anfang stellen: zu Elektromusik kreist eine Tänzerin – oder ist es eine Influencerin, die content kreiert? - mit einer Kamera, vor die eine Ringleuchte montiert ist, um eine Konstruktion aus faltbaren Stellwänden. In den Falten stehen, für das Publikum nicht sichtbar, die übrigen Tänzer*innen, ihre Bilder werden über die Kamera auf die Rückwand der Bühne übertragen. An Hans van Manens LIVE erinnernd, stellt sich die Frage, wer real(er) ist: der lebende, atmende Tänzer, den das Publikum nicht sehen kann, oder seine zweidimensionale Projektion.
Das Handwerkszeug der Influencer, die Kamera mit der Ringleuchte, ist im Stück ständig präsent. Von den Tänzer*innen herumgetragen, um die Tanzfläche zu beleuchten, gliedert sie, auf einem Ständer montiert, den Raum, indem sie Lichtinseln schafft, kleine Welten, eng begrenzte Realitäten - im österreichischen Sprachgebrauch auch ein Begriff für Immobilien, für Wohnungen. Sie dient aber auch als Schnittstelle zwischen der virtuellen und der analogen Welt, wenn eine Tänzerin sich vor der Kamera präsentiert, während ihr Partner von der anderen Seite seine Hand durch das Rund der Leuchte streckt, um ihr Gesicht zu berühren - und die Zuschauenden sich in diesem Moment fragen lässt, wo die analoge Realität aufhört und die virtuelle Realität beginnt, wo die Grenze zwischen beiden Welten verläuft.
In Reality Warping läßt Jasmine Ellis ihre Tänzer*innen in den unterschiedlichsten Kombinationen miteinander agieren, als Solisten, als Duos aus Mann und Frau oder aus Mann und Mann, gemeinsam als Individuen oder als Einheit. Schließlich dehnt sie aber auch die als sicher angenommene Grenze der Anzahl ihrer Tänzer*innen: in einem Hybrid-Duett lässt sie einen Tänzer aus Fleisch und Blut mit der Projektion eines anderen Tänzers auf dem Gazevorhang tanzen. Wieder ist, wie schon in der Anfangssequenz, nicht zu sagen, welcher der Tänzer real(er) ist - beide werden vom Publikum wahrgenommen, beide rufen hier eine Reaktion hervor, haben eine Wirkung, sind Wirklichkeit.
Zum Abschluss wird schließlich die physische Barriere zwischen Tänzer*innen und Publikum überwunden. Der Gazevorhang ist nicht nur Projektionsfläche, sondern auch die vierte Wand, die den Raum der Tänzer begrenzt und sie gleichzeitig vom Publikum trennt. Zwei Tänzerinnen bewegen sich miteinander, bis die eine den umschlossenen Tanzbereich verläßt und in den Zuschauerraum eindringt. Dabei verlieren sie aber nicht den Kontakt zueinander, sie schieben den Gazevorhang zwischen sich hoch, verbinden beide Räume, schaffe so eine neue Realität.
Jasmine Ellis ist es gelungen ein charmantes, modernes Stück zu Realität und Wirklichkeit zu schaffen, das auf witzige Art dem Menschen des social-media-Zeitalters den Instagram-Spiegel vorhält. Die Antwort, die Reality Warping auf die Frage der Konstruktion von Realität und der Stellung des Menschen in dieser gibt, fällt allerdings ernüchternd aus: „Reality is over!“ - „We are all brands!“
Dieser Text entstand im Rahmen einer Kooperation mit Studierenden der Paris Lodron Universität in Salzburg und der Sommerszene Salzburg unter der Leitung von Nina Hümpel.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments