NEWSROOM - #2
Die neueste Folge unserer Newssendung zu Tanz aus Bayern
„Relationshifts“ von Ceren Oran
Mehr Platz als vier mal vier Meter brauchen Jin Lee und Uwe Brauns nicht. Die Wände sind mit dünner Gaze bespannt. Ganz nah dran nimmt das Publikum um die Box herum Platz. Choreografin Ceren Oran experimentiert gerne. Im vergangenen Jahr wurde sie, die „Tanz nicht nur als Kunst-, sondern besonders auch als Kommunikationsform begreift“, mit dem Förderpreis der Landeshauptstadt München ausgezeichnet. Um einen passenden Titel für diese Produktion hat die seit bald zehn Jahren an der Isar lebende Choreografin gewiss gerungen. Nun rundete die Wiederaufführung ihres Kammerstücks „Relationshifts“ das diesjährige Performance-Programm der Tanzwerkstatt Europa ab. Und das bestens.
Im einzigen „Heimspiel“ dieser Festival-Ausgabe wurde der Zuschauer unwillkürlich in die Position eines analytisch beobachtenden Forschenden versetzt. Auf engstem Raum entwickelte sich im dezent abgeschlossenen Käfig etappenweise Intimität – beginnend beim ersten Sich-Annähern bis zum Scheitern oder gar Liebesaus nach einer Phase des miteinander in Konkurrenz-Tretens. Offenbar waren autobiografische Erfahrungen in das intensive choreografische Panorama eingewoben. Gesprochene Statements aus koreanischen Liebesfilmen oder von Gedichten Kate Tempests kamen aus dem Off hinzu. Uigurische Songs oder einfach Stille brachen den soften, teils meditativen Sound.
Eine atmosphärisch kurzweilige Stunde lang konnte man den bewegungstechnisch komplexen Verschiebungen und emotionalen Zuspitzungen einer Beziehung nachspüren. Und wer blieb, noch einmal so lang. Stets beginnen Mann bzw. Frau solistisch. Der Partner tritt später von außen hinzu. Am Ende einer Runde wird er zurückgelassen. Danach greifen zwei famose Protagonist*innen unter anderem Blickwinkel das gleiche Strukturmuster wieder auf – diesmal mit vertauschten Rollen. Mit „Relationshifts“ ist Oran eine berückend schön dahinfließende Arbeit gelungen. Dramaturgisch dicht behandelt sie darin, was in einer Partnerschaft mit der Zeit verloren geht und was als Gewinn neu hinzukommen mag.
„Harmonia“ von Adrienn Hód mit Unusual Symptoms
Dass Menschen, die sich körperlich aufeinander einlassen, dem Gegenüber wohltun, helfen und auch enorm viel Spaß miteinander haben können, hatte am Vorabend die Kompanie Unusual Symptoms des Theaters Bremen in „Harmonia“ von Adrienn Hód unter Beweis gestellt. Acht Akteure – die einen mit, die anderen ohne körperliche Beeinträchtigung – sind auch hier unmittelbar den Blicken der Zuschauer ausgesetzt. Gut die Hälfte des Stücks massieren und dehnen sie sich paarweise. Zudem trainiert ein junger Mann an der Stange klassisches Ballett. Wegen seiner Spasmen vermag er die Übungen nur sehr eigenwillig auszuführen. Doch wie stimmig ist seine Hingabe, seine Freude am Tanzen jenseits aller Norm. Zum Schluss wird auch er über sich selbst hinauswachsen und mit seinem Elektromobil auf mitreißende Weise in ein befreites Abtanzen jenseits physischer Grenzen einstimmen. Das öffentliche Warm-up zuvor zieht sich allerdings. Plätze werden getauscht, und alle steigern sich in unterschiedlichste körperliche Anspannungen hinein. In absichtlich verkorksten Verdrehungen sehen sogar vermeintlich perfekte Bodies gequält aus. Körperliche „Normalität“ verwischt.
In gemeinsamen Trainingssequenzen und kleinen tänzerischen Einlagen arbeitet man sich gemeinsam ab. Teile eines Rollstuhls werden dabei zu choreografischen Begleitinstrumenten umfunktioniert. Akrobatische Hebungen lassen an das sportiv-virtuose Opening des Festivals mit Alexander Vantournhouts „Foreshadow“ zurückdenken. Irgendwann setzt Musik ein, das helle Saallicht erlischt. Die inklusive Crew zuckt immer heftiger und jeder einzelne gräbt sich motorisch regelrecht in den Raum hinein. Das ruft kurz den Zombie-Effekt aus van Dinthers „Unearth“ – drei Tage zuvor – in Erinnerung. Doch „Harmonie“ klingt funkenstiebend fröhlich in einer Serie finaler Solos und Duette aus. Diese letzte Sequenz ist satt an individuellen Präferenzen und reicht endlich das nach, worauf man 70 Minuten warten musste: das Erkennen von Werkcharakter und tieferem Sinn.
„Who’s Next? – Open Stage“
Unterschiedliche Wege hin zu eigenen Stücken beschritten sechs Newcomer in „Who’s Next? – Open Stage“. Man gab sich als kindlich stotternde Bodybuilderin aus (sehr witzig: Emma Stacey) oder zog, vorgeblich aufgrund von Armut und Ansteckungsphobie eine putzwilde, raffiniert ausgestattete Nummer ab (Cochon de Cauchemar aka Nympho-Ménage – alptraumschrill wie ihr Name). Drei weitere Solos untersuchten formale Aspekte des Tanzes, darunter Stéphane Evrard – einer Trisha Brown würdig – das Kreisen in „Drawing n°1: Fun little details“. Und Luca Seixas fokussierte sich in seinem Trio „YES we can’t“ auf bodennah weich dahingleitende Bewegungen. Leider wählten fast alle ein Zu-Boden-Stürzen für ihren – manchmal doch zu simplen – Schlusseffekt.
„Dance is not for us“ von Omar Rajeh
Gut in den inhaltlichen Rahmen der diesjährigen Tanzwerkstatt-Ausgabe, die politische Brennpunktthemen, Nacktheit, queere Selbstentblößung oder pure Verrücktheiten weitgehend aussparte, fügte sich der überaus eigenwillige Omar Rajeh. Noch bevor er auf der Bühne erscheint, kommuniziert er bereits mit seinen Gästen. Man wird eingeladen, „a little piece of life“ mit ihm zu teilen. Der Tänzer und Choreograf spricht im libanesischen Arabisch, die englische Übersetzung wird auf die glatte schwarze Wand im Hintergrund projiziert. Es ist eine eindringliche Performance, durch die man gezwungen wird, den gummiballwild-fidelen Mann in Aktion zu beobachten und zugleich seine sich wie von Zauberhand auf den Hintergrund selbst schreibenden Gedanken mitzulesen. Beides besitzt aufrüttelnde Kraft.
Rajeh arbeitet in „Dance is not for us“ konsequent mit zwei komplementären Ebenen: der des Geistes und klugen Kopfs und der enorm physischen seines Bodies. Letzteren reißen die Rhythmen der eingespielten Perkussionsbegleitung immer wieder einfach mit – manchmal womöglich wider den eigenen Willen. Im Mittelteil, der ohne textliche Flankierung auskommt, scheinen all die in Rajehs Körper eingegrabenen Erinnerungen an Kreationen, Aufführungen und vielleicht auch glückliche Feste aus ihm herauszubrechen. Ein Trippeln erfasst seine Fußsohlen und bald moven die Glieder von den Knien über die Hüfte bis zum Kopf im Zickzack. Ruckartig heben sich die Schultern zu den Ohren, und dem die Anspannung lösenden Rallentando hin zum Plié geht ein strahlend-verführerisch koketter Blick voraus: Anklänge – auch musikalisch – an den heimatlichen Volkstanz.
Fast ein Jahr bevor am 4. August 2020 eine katastrophale Explosion weite Teile Beiruts zerstörte, hatte der Libanese seine Heimat verlassen. Sein Solo greift viele emotionale Momente dieser Zeit auf und stellt starke sozio-politische Bezüge zu dem Land her, mit dem er weiterhin verbunden bleiben möchte. Er nimmt das Publikum mit auf eine autobiografische Reise, in (s)ein kreatives Universum, in dem Tanz eine schier explosive Rolle spielt. „Ich stehe hier hinter der Kulisse und trinke noch etwas“, sagt er zu Beginn. Dann betritt er, eine grüne Pflanze in der Hand, die Bühne. Bald verteilt er mit Pflanzentöpfchen vollgestellte Tabletts um sich im Raum.
In Form von drei fließend ineinander übergehenden Akten – und nicht wirklich unterbrochen durch eine fünfminütige Pause, die eine Aufnahme des libanesischen Sängers Nasri Chamseddime akustisch wunderschön ausfüllt – bietet sich dem Zuschauer ein regelrechter Overflow an sinnlich-poetischen Zustandsbildern: voller subtiler Drastik, die fliehkraftartig widerspiegelt, was in einem Menschen vorgeht, dessen Heimat erst lange durch Bürgerkrieg und später durch eine schreckliche Katastrophe komplett aus der Bahn geworfen wurde. Der Tanz wird zur Quelle der Hoffnung und einer partizipativen Inspiration. Am Ende geht Rajeh mit einem Pflänzchen auf die Zuschauer zu. Dann wiederholt er diese Geste mit einer ganzen Palette. Es sind genügend kleine duftende Basilikum-Pflänzchen für alle da. Eines hält Rahej hoch und besteigt einen Stuhl. Spontan ergrünt der ganze Zuschauerraum. Reich beschenkt verließ man die Aufführung – wie an nahezu allen anderen Abenden auch.
Den Bericht zum ersten Teil der Tanzwerkstatt Europa finden Sie hier auf tanznetz.
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