Vom Rausch über die Klimakatastrophe bis hin zur ego- und formverliebten Endlosschleife
Formen des Eskapismus beim neuen Dreiteiler „Duato/Skeels/Eyal“ beim Bayerischen Staatsballett
Viel hatte sich das Bayerische Staatsballett anlässlich seines 30-jährigen Jubiläums als unabhängige Institution vorgenommen. Doch gerade in dieser Spielzeit ließ die erste Premiere coronabedingt so lange auf sich warten, wie nie zuvor, und aus einem geplanten Live-Stream wurde ein Mitschnitt. Was am Montagabend über den Bildschirm flackerte, war die Hochglanzaufnahme eines Filmteams, Kunstwerk eines eigenen Metiers: Dennoch ist ein überaus berührender Abend entstanden, dessen emotionale Kraft seine Zuschauer*innen erreicht hat: Denn gleich, ob der Auslöser der Gefühle digital war – das Ziel blieb real und analog. Dabei hielt der Titel „Paradigma“ das, was er verspricht, eine mustergültige Veranstaltung hohen künstlerischen Niveaus.
Für den Ballettabend wurde ein bewährtes Format wiederbelebt: ein moderner Dreiteiler, welcher Werke unterschiedlicher Choreograf*innen zeigt – in diesem Fall eine Wiederaufnahme und zwei Premieren des Bayerischen Staatsballetts, allesamt zeitgenössische Kreationen des 21. Jahrhunderts.
Den Auftakt markierte das zum Kultstück erhobene Trio „Broken Fall“ des Kanadiers Russell Maliphant; dieses war 2003 für Tanzikone Sylvie Guillem erschaffen worden, befindet sich seit 2012 im Münchner Repertoire und könnte als Studie über physikalische Gesetzmäßigkeiten verstanden werden. Beruht dieses auf dem Zusammenspiel dreier Tänzer*innen als einer spannungsgeladenen Ménage à trois, so ergibt sich auch erst aus der Verbindung von Choreografie, der musikalischen Komposition Barry Adamsons und dem Lichtdesign Michael Hulls‘ ein vollumfängliches Gesamtkunstwerk.
Zu Beginn ist die Bühne in Dunkelheit getaucht, aus welcher Jonah Cook und Jinhao Zhang als sich bewegende skulpturale Kunstwerke hervortreten. Mit bedächtiger Langsamkeit schrauben sie sich vom Boden empor, das klassizistische Bild antiker Diskuswerfer hervorrufend; von der Bühnenmitte aus nimmt Tänzerin Jeanette Kakareka in puristischem Kostüm – Trikot und Knieschonern – ihren Platz zwischen ihnen ein. Wie vom Wind von der einen auf die andere Seite geweht, vollführen sie Wiegeschritte, aus denen sich ein erstes Lehnen der Tänzerin ergibt. Kreise werden ähnlich eines Zirkels mit angespannten Gliedmaßen gezeichnet, Rollen über den Boden ausgeführt und Arme gleich Herbstblättern synchron fallengelassen. Im Spiel mit Gewicht und Gegengewicht erinnern die Tänzer*innen an ein Perpetuum mobile, Körper und Gliedmaßen, die sich unentwegt anstoßen. Mit dem neu hinzukommenden Beat werden die Bewegungen expandiert, sie finden nicht mehr vorwiegend auf horizontaler Ebene, sondern in der Höhe statt: Was mit Schritten begann, wird zu einem Rennen, aus Fällen werden Würfe. Gleich einer Trapezkünstlerin erklettert Kakareka mit zirzensischer Artistik die Schultern ihres Partners und stürzt in rasantem Tempo in die verlässlichen Arme des anderen – ein hinabstürzender Ikarus sowie Sinnbild für blindes Vertrauen und absolute Reaktionsfähigkeit.
So abhängig die Tänzerin von ihren Partnern zunächst ist, so losgelöst erscheint sie in ihrem Solo mit hyperfemininen und geschmeidigen Bewegungen: Rücklings schnellt sie ihr Bein in ein tiefes Penché empor, vollführt hohe Développés und beweist ihr Vermögen an Flexibilität, Stärke und Fragilität, welche sie als Athletin und zeitgenössische Ballerina auszeichnen. Mit einem überstreckten Tendu à la Forsythe verharrt die Tänzerin im frontal ausgerichteten Fokus auf der Bühne, als würde sie sagen: Hier bin ich – der Katalysator und die Achse, um die sich alles dreht, der gebrochene Fall. Große Fußstapfen sind es, in welche Kakareka hier tritt, und sie füllt sie souverän. Dennoch lässt sie einen Hauch dessen vermissen, was diese Partie ausmacht: Die unbeschreibliche Strahlkraft, lässige Selbstverständlichkeit als Aura und der letzte Grad an Spannung, welcher elektrisiert. Ist diese Fülle an Herausforderungen teilweise spürbar, so schmälert dies nicht den Gesamteindruck: „Broken Fall“ ist ein Meisterwerk im Sinne zeitgenössischen Tanzes, als virtuoseste Bewegung in Zeit und Raum.
„Bedroom Folk“ des israelischen Choreografen-Duos Sharon Eyal und Gai Behar wurde 2015 für das Nederlands Dans Theater kreiert und ist erstmals in München zu erleben. In seiner Vielschichtigkeit spielt sich das Werk nicht nur auf zahllosen Ebenen ab, bereits der Titel erscheint zweideutig: Suggerieren Bühne und Kostüm eine Boudoir-Atmosphäre, indem die in ein sinnliches Rotorange getauchte Bühne mit den enganliegenden schwarzen Trikots der acht Tänzer*innen korrespondiert. So entwickelt sich thematisch etwas, das bedingt im Schlafzimmer stattfindet, ein Albtraum fatalster Art, der auf ewig wiederkehrt und alles absorbiert. Die undefinierbare Gruppe erweckt den Eindruck von Partygästen ohne Party; genauso gut könnte es sich um Anemonen oder einen vielzelligen Organismus handeln. Doch gleich, was es ist – es bildet eine bizarre Einheit im Konsenskörper, eine exklusive Gruppe, die sich gegenseitig bedingt.
Das Stück beginnt mit dem Auslöser des Albtraums, einem gnadenlos pulsierenden Beat in Dauerschleife, der gleich einem unbewegten Beweger, einem Motor ohne Anfang und Ende, die Tänzer*innen in vibrierend-energetische Bewegung versetzt. In unnatürlicher Synchronität vollführen diese als dicht beieinanderstehende, androgyne Masse einen marche miniature. Wobei Kopf, Rumpf und Arme mit ihren mechanisch zuckenden Bewegungen seltsam isoliert von den trippelnden Beinen wirken – als wären sie frequentiert Stromstößen ausgesetzt. Emotionslose Blicke werden gewechselt sowie auf ein nur für die Gruppe verständliches Signal hin im Kanon und mit synkopierten Schritten Plätze getauscht. Quallen ähnlich vollführen Männer groovige Bewegungen im Twist von Hüfte und Oberkörper, als wären sie im Wasser hin und her geschwappt. Das Bild schlüpfender Raupen tut sich auf, welche sich nicht aus ihrem Kokon befreien können, und tun sie es doch, werden sie umgehend in die dahinvegetierende, in Trance gefangene Gruppe eingegliedert, ihr wieder gleichgeschaltet.
Mühelos kommt ein unüberschaubares Potpourri an Bewegungsvokabular in Einsatz, welches jede stilistische Einordnung unmöglich macht: Einer klassisch anmutenden Sprungvariation folgen Hip-Hop-Moves mit nach vorn treibender Hüfte, welche in Riverdance oder Voguings der Laufstegmodelle münden. Eingestreute expressiv-pathetische Gesten – Handcups welche nicht versiegende Tränen auffangen, das Umblättern imaginärer Seiten – sind ebenso vorhanden, wie flatternde Armvariationen als Schwanensee-Zitat. Aus Momenten scheinbarer Regungslosigkeit eröffnet sich unmittelbar ein Trauerzug oder ritueller Totentanz – erzählt wird alles und nichts. Und so endet das Werk mit gestochen-scharfen, abwechselnden Jetés gleich eines Metronoms, das völlig sinnlos die Sekunden zählt. Ohne jede Frage, „Bedroom Folk“ besticht als spannungsgeladenes Ensemblestück mit einem schier unbegrenzten assoziativen Freiraum, welches jede Lesart akzeptiert: Realität, Traum, Science-Fiction, Irrenanstalt, Zuchthaus? Egal, was der/die Zuschauer*in hierin sehen mag, er kann sich der soghaften Wirkung und rauschhaften Atmosphäre der Choreografie nicht entziehen.
Das neoklassische Ballett „With a Chance of Rain“ des Briten Liam Scarlett wurde 2014 beim American Ballet Theatre uraufgeführt und feierte jetzt seine europäische Erstaufführung. Als dessen Herzstück müssen zweifellos die in ihrer Klangfarbe spätromantischen Klavier-Präludien Sergej Rachmaninows gelten, deren Elegie, Schmelz, schwermütige Dramatik und poetische Anmut Scarlett genauestens folgt. Begleitet werden die acht solistischen Tänzer*innen in dem musikalisch höchst anspruchsvollen Solopart vom Pianisten Dmitry Mayboroda. Nur in dieser letzten Choreografie kommt Spitzentanz in Einsatz, der gemeinsam mit den teils fließenden Kleidern der Tänzerinnen sowie losen Hemden der Tänzer den Fluss und die schwerelose Leichtigkeit des Stücks unterstreicht.
Vom Bühnenzentrum aus eröffnet ein Mann mit nacktem Oberkörper (Emilio Pavan) die Bewegung – atmet mit raumgreifenden, weichen Armen und Körper-Verwringungen gleichsam zur Musik. Die anderen Tänzer*innen nehmen seine Bewegungen auf, ein tänzerischer Kanon setzt ein, welcher die Musik parallelisiert, und die Tänzer*innen zu Paaren finden lässt. Es entwickelt sich eine fließende Gruppenchoreografie voll Anmut und Aplomb: Hohe Arabesquen, anspruchsvolle Hebungen, über die Schultern geworfene Jetés sowie technisch virtuose, raumgreifende Sprungvariationen der Männer entfalten sich mit großer Eleganz – auffällig ist der Einsatz eines extrem flexiblen und expressiven Oberkörpers, der die Strebung in die Vertikale häufig verlässt und kaligraphische Formen beschreibt.
In organischer Struktur gehen die Präludien ineinander über, Paare folgen der emotionalen Musik, kommunizieren über sie und bilden Kleingruppen, welche sich auf natürlichste Weise wieder lösen: Soli entspinnen sich zu Duetten oder Trios, beschreiben eine komplexe Beziehungsstruktur mit narrativen Momenten, ohne jemals Handlungsballett zu sein. Visuell ansprechende Bilder zum Klang betörender Musik sind so schnell vergangen, wie sie entstanden sind – Positionen und Hebungen, wie aus einem Guss, und in unaufhörlichem Wandel begriffen. Markante Akzente des neoklassischen Werks sind der tangohaft anmutende, lustvolle Pas de deux zwischen Laurretta Summerscales und Jinhao Zhang, welcher Elemente des Standardtanzes mit unkonventionell gedrehten Attituden, frivol aufgeladenen Handlungen oder Off-Balancen verbindet. Hervorzuheben ist auch das ungewöhnlich intensive, kämpferische Duett zwischen Zhang und Pavan, welches die Wucht und leidenschaftliche Dramatik der Musik in Bewegung übersetzt. Ein Paar von besonderer emotionaler Tiefe und Dichte stellen schließlich Pavan und Ksenia Ryzhkova dar, deren innige Umarmungen mindestens ebenso fesseln und berühren, wie anspruchsvollste Hebefiguren es tun. Vor allem mit ihnen erhält der Titel seinen endgültigen Sinn – wenn Ryzhkova am Ende ihres Pas de deux Pavan zu Füßen liegt, und er, unbeteiligter als sie, buchstäblich über ihr steht, wird ersichtlich: Der Ausgang auch dieser Beziehung ist ungewiss. Möchte man „With a Chance of Rain“ ein Thema unterstellen, so wäre es das Sinnieren über die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, das Bewusstsein, wie fragil die Liebe ist, und dass auf jeden Sonnenschein Regenschauer folgt – „Regenwahrscheinlichkeit“ stets inbegriffen.
„Paradigma“ präsentierte sich als gelungener Tanzabend zeitgenössischer Werke, der besonders wieder für Vielfalt im Repertoire der Kompanie einsteht. Doch bei aller anzuerkennenden Leistung, dass dieser Tage die Realisierung einer solch hochkarätigen Premiere überhaupt möglich ist, drängt sich vor allem ein Gedanke auf: Man wünscht sich den reellen Zauber von Kunst zurück, und dass das zwangsläufig zum neuen „Muster“ heraufbeschworene Format von Online-Veranstaltungen bald wieder dem magischen Ort des Theaters – gemeinsam von Künstlern und Publikum belebt – weicht. In diesem Sinne sehnt man tatsächlich den Beginn einer neuen alten Zeit herbei: einen Paradigmenwechsel.
„Paradigma“ ist ab dem 6. Januar 30 Tage lang als Video-on-Demand auf STAATSOPER.TV zu sehen.
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