„Sand“ von Georg Reischl

„Sand“ von Georg Reischl

Mit Konsummüll Vergiftet

Premiere von Georg Reischls Mahnung „Sand“ am Theater Regensburg

Der Chefchoreograf des Theaters Regensburg hat Sand in seiner jüngsten Arbeit zu einem Kunst- und Nachdenkobjekt gemacht, der die Grundlage für einen offenen und zugleich gesellschaftspolitisch aufgeladenen Tanzabend bietet.

Regensburg, 02/11/2020

„Deine Spuren im Sand (...).“ Arglos und unbekümmert konnte Howard Carpendale 1974 noch den verwischenden Spuren seiner romantische Schwärmerei nachweinen. Heute ist Sand, wie so vieles in unserer auf Ausbeutung, Gier und Übervorteilung beruhenden Welt-(wirtschafts-)ordnung, ein Naturprodukt, das verwertet werden muss. Ob als verlockender Sandstrand für Touristenströme, unerlässlicher Bestandteil in elektronischen Geräten oder als Stoff für Häuser- und Brückenbau. Längst ist das scheinbar unbegrenzt zur Verfügung stehende Naturmaterial auf diese Weise rar und zu einem immer wertvolleren Handelsgut geworden.

Georg Reischl, Chefchoreograf des Theaters Regensburg, hat Sand in seinem jüngsten Tanzstück zu einem Kunst- und Nachdenkobjekt gemacht. „Sand“ wählte er als semantischen Ausgangspunkt, mit dem er bei den Mitgliedern seines Tanzensembles einen assoziativen Prozess in Gang setzte. Dieser bildet die Grundlage für einen offenen und zugleich gesellschaftspolitisch aufgeladenen Tanzabend, der unmittelbar vor dem neuerlichen Lockdown im Regensburger Velodrom Premiere hatte und nahezu frenetisch gefeiert wurde.

Bühne: Zehn Tonnen Sand, im Hintergrund Felsbrocken und Felsformationen über die die Tänzer*innen in sportlich-synthetischer Funktionskleidung mit exaltierten Mustern geklettert, gejumpt, gekrochen kommen. Anfänglich scheint alles eitel Sonnenschein. Zu minimalistisch inspiriertem Sound, der an Ludovico Einaudi erinnert, streckt und reckt sich synchron ein Paar. Durch die Wucht ihrer Ausstrahlung und die Intensität ihres synchronen Tanzes verliert die notwendige Corona-Distanz nahezu jegliche Bedeutung. Vielmehr spiegelt sie sich auch in der weißglühenden Sonne in drei Fernsehern, die schräg im aufgeschütteten Sand stecken und über Videos (Ausstattung: Michael Lindner) zusätzliche Assoziationsspielräume eröffnen. Später ziehen Wolken durch die Guckfenster zur Welt und ein Auge – der große Bruder? – blickt in extremer Closeup-Aufnahme aufs Geschehen und übers verstreut sitzende Publikum. Die Tanzenden sonnen sich, andere posieren, man zeigt sich in glänzender Verfassung. Nach und nach bekommt diese Oberfläche Risse.

Nebel zieht auf, kleine Sandfontänen unterstreichen den akustisch unwirklichen Raum, der sonst durch Tritte und laute Sprünge auf dem Bühnenboden markiert ist. Mit einem Wechsel zu langsamer, traurig gestimmter Klaviermusik von Nils Frahm (von ihm ist sämtliche Musik) bricht ein neuer Aspekt hervor, wenn die Tanzenden „Aua“, „Au, au“ schreiend über den brennend heißen Sand hüpfen. Das sprüht vor Komik. Zugleich erwächst daraus ein tragisches Moment, der Boden unter den Füssen wird ihnen – letztlich uns allen – zu heiß. „My name is Alessio and I want you to panic“, zitiert ein Tänzer (Alessio Burani) in angepaßter Form die Klimaaktivistin Greta Thunberg.

Licht verändert die Landschaft, die wechselseitigen Systeme von Natur, Mensch und Kultur. Ein exzentrischer Pas de deux (Elisabet Morera Nadal, Filippo Buonamassa) aus eckigen, kindlich-spielerischen und hektischen Formen kulminiert zur heftig attackierenden Pianomusik in panischen Bewegungsabläufen. Auf Sand gebaut? Bricht die Welt auseinander oder erstickt am Plastik, welches in Form leerer Plastikflaschen vom Himmel regnet? Reischl schreibt seine assoziativ angelegte Bilderwelt in einem gelegentlich surreal anmutenden Formenrepertoire fort. Wie in einem Kettenkarussell verbinden sich galante Figuren, comichafte und zeitgeschichtliche Gesten, Sprache und verkorkst anmutende Schritte und Verdrehungen zu einem spannungsgeladenen Bogen von Stop-and-Motion, von kuriosen Klischees und technoider Ichbezogenheit.

Oben auf dem Fels würgt und presst ein mit Konsummüll Vergifteter – oder ist es ein mit Hass und Bosheit angefüllter Machthaber – unverständliche Worte wie Erbrochenes hervor. Gleichzeitig wuchtet unten ein Tänzer grotesk schwankend einen Felsbrocken durch ein Feld mit Blumen, die in den aufgestellten Flaschen stecken. Drum herum sitzen die anderen, kommentieren und rühren keinen Finger. Ein mehrdeutiges Bild, das dennoch einen ziemlich guten, zynischen Blick auf den Zustand unserer egoistischen, anspruchsvoll-saturierten Gesellschaft bloßlegt.

Es gibt aber auch das andere, das solidarische Leben, verkörpert durch drei Tanzende, die ganz sicher im Normalleben in einer Wohngemeinschaft zusammenleben. Sie unterschreiten als einzige aus dem elfköpfigen Ensemble die 1,5-Meter-Abstandsregel und nehmen sich sogar im hoffnungsvollen Schlussbild in die Arme. Zuvor allerdings steht die Welt in Flammen, flackert Feuer aus den TV-Geräten, derweil haarige Wesen ziellos über die verwüstete Erde schlurchen und andere teilnahmslos oder ohnmächtig in die Fernseher starren. Apokalyptisch, mahnend, voller Nachdenkstoff. Die „Spuren im Sand“ haben weder die Flut noch der Wind mitgenommen, nach einem großartigen Tanzabend sind sie präsenter denn je.

Nach viel Applaus und etlichen Aufzügen enterte Intendant Jens Neundorff von Enzberg die sandige Bühne, dankte den Tänzerinnen und Tänzern – Laureen Olivia Drexler, Rei Okunishi, Louisa Poletti, Giorgia Scisciola, Elisabet Morera Nadal, Filippo Bonnamassa, Alessio Burani, Bartlomiej Kowalczyk, Lucas Roque Machado, David Nigro und Tommaso Quartani – Reischl und anderen Beteiligten. „Es ist das erste Mal seit fast acht Monaten“, zählte er mit unterdrücktem Zorn auf, „dass die Tänzer wieder auf der Bühne stehen. Und morgen dürfen sie schon wieder nicht mehr tanzen!“ Er habe für die aktuell beschlossenen Corona-Maßnahmen mit dem Teil-Lockdown kein Verständnis, „laut deutschem Bühnenverein ist kein einziger Fall bekannt, dass sich jemand in einem Theater mit Corona angesteckt hat!“ „Schreiben Sie an Söder, an Merkel, an Spahn, an ihre Abgeordneten“, forderte er das Publikum auf, „tun Sie etwas für uns, wir tun unser Bestes für Sie.“
 

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