Mit Konsummüll Vergiftet
Premiere von Georg Reischls Mahnung „Sand“ am Theater Regensburg
Er kam, choreografierte und siegte. So pathetisch und abgedroschen bis zum Lorbeerkranz dieses abgewandelte Zitat daher kommt – für die Uraufführung von „Juke Box Heroes“ am Theater Regensburg steckt durchaus Wahres drin. Jedenfalls was den Chefchoreografen und neuen Leiter der Tanzsparte am Theater Regensburg angeht, den Österreicher Georg Reischl. Mit seinem ersten abendfüllenden Stück erlebte er einen Erfolg, wie er nach dem Weggang seines überaus beliebten Vorgängers Yuki Mori erstmal nicht zu erwarten war.
Noch bevor die letzten trüben Popklänge von Billie Eilish verklungen waren und die Bühne des Velodroms mit einem Knall und herab rieselndem Glitter ins Dunkel fiel, sprangen begeisterte ZuschauerInnen aus den Sitzen und leiteten „standing ovations“ ein. Zwar gehört zum vollständigen Bild, dass nur ein größerer Teil des Auditoriums auf den Beinen war – manche sicher, weil sie nichts mehr gesehen haben. Die vorderen Reihen blieben überwiegend sitzen, keineswegs weniger begeistert wie es schien, angesichts der beeindruckenden Leistung des Ensembles, das ohne den verletzten Alessio Burani auftreten musste. Der durfte noch für das auffällige Werbefoto herhalten, das vier kunstvoll Geschminkte mit schmalem Oberlippenbart, roten Wangen und Schönheitspunkt zeigt, von denen erst auf den zweiten oder dritten Blick klar wird, wer weiblichen und wer männlichen Geschlechts ist.
Um eben diese Frage dreht sich Reischls Tanzabend im ersten Teil. Über Musik von Antonio Vivaldi, gesungen von Countertenor Philippe Jaroussky wird die klassische Rollenaufteilung von Frauen und Männern hinterfragt. Die Stimme(n) als genuiner Bestandteil tauchen auch im Ensemble auf, bedienen dann allerdings mit hysterischen Schrei- und Lachanfällen durchaus wieder typische Rollenzuweisungen. In den monochrom schwarzen Kostümen dagegen, erotisch konnotierten Abendkleidern, lösen Duette von Frauen und Männern gewohnte Grenzen und Sichtweisen stellenweise auf. Kleine Gruppen erscheinen in verspielten Sequenzen wie mobile Scherenschnitte. Es wird parodiert, sich seiner – maskulin-machistischen oder feminin-fraulichen – Stellung vergewissert, schwule oder tradierte Gestik und Muster aus dem Barock spiegeln den mal heiter-leichten und dramatischen, androgyn anmutenden Gesang wider. Dabei wird auch mal ordentlich bis zur Vulgarität überdreht, wobei die Drastik durch tänzerische Dynamik und neue Bewegungsformen, die mehr Leichtigkeit und selbst in ruhigen Bewegungen vibrierenden Spannung setzen, konterkariert wird.
Im zweiten Teil, vollgestopft mit Popsongs unterschiedlicher Epochen, die auffällige und hohe Stimmen (was nur bedingt für die erwähnte Eilish gilt) ein, stecken die neun Tanzenden in bunt gefleckten Anzügen (Min Li), die sie in unsere uniforme Zeit katapultieren. Ein Zwischenspiel mit rot-pinkfarben beleuchtetem Hintergrund liefert ein Tänzerinnen-Paar zu „Somewhere“ aus Bernsteins West Side Story, rauh-grölend gesungen vom unverwechselbaren Tom Waits. Uniform, weil in der stärker hervorgekehrten Individualität unserer Zeit, die auch von den Tanzenden gespiegelt wird, oft mehr gleichmacherischer Zwang steckt, als üblicherweise gesehen wird. In der beliebiger werdenden Choreografie steckt viel Witz, wenn Tänzer mit angedeuteten Hahnenkämmen gockeln und Tänzerinnen posen. Wie überhaupt die androgyn besetzte Epoche der Discokultur und -musik stark zum Posen und Bäumchen-wechsel-dich-Spielen driftete.
Kam im ersten Teil mit den Vivaldi-Arien, der übersinnlich schönen Stimme Jarousskys und den prächtigen Kostümen noch die versteckte und offene Sinnlichkeit des – feudalen – Barock zum Zug, zerfledderte der zweite Teil ein wenig in Zitaten. Da tauchen Breakdance-Elemente auf, kollektives Twerking, es wird geflirtet, Synchronsequenzen setzen Solisten und Paare wunderbar ironisch in Beziehung zum Kollektiv. Letztlich aber fehlt es ein wenig am verbindenden Gedanken, an einer tragenden Idee – die so unterschiedlichen Stimmen von Nina Simone, Bronski Beat oder AC/DC erscheinen da eher wie eine zufällige Zusammenstellung. Ausgebügelt wird die dramaturgische Schwäche durch die sprühende Energie und eine tierische Spannung, die in jeder Sekunde des Abends vom Ensemble ausgeht. Es setzt die neuen Elemente und Ausdrucksformen Reischls in jeder Weise mit einer Begeisterung und Hingabe um, dass es einem leicht fällt in die berauschende Stimmung von „standing ovations“ einzufallen und die „Juke Box Heroes“ auf Händen zu tragen.
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