Blick zurück nach vorn
Gala zum 50. Geburtstag von Iwanson International im Münchner Gasteig
Bei „Gasteig moves“ in München gibt die Uraufführung von „Heimat“ den Auftakt
Beinahe wäre auch dieser Tanzabend – Auftakt der neuen Reihe „Gasteig moves“ im Gasteig – Corona zum Opfer gefallen. Glücklicher Weise nur beinahe, denn Choreografin Roberta Pisu konnte sich bei der Uraufführung ihres Crowdfunding-Projekts „Heimat“ am Montagabend, 21. September, mit ihrem Debüt feiern lassen. Nach choreografischer Mitarbeit an Kreationen ihrer künstlerischen Heimstätte des Balletts des Staatstheaters am Gärtnerplatz, wie „Momo“, „Minutemade“ oder „Je suis Faust“, stellt die knapp einstündige Kreation „Heimat“ ihr erstes abendfüllendes Werk dar.
Für die gebürtige Italienerin, die ihre Ausbildung teils in Frankreich absolvierte und seit bald einem Jahrzehnt in Deutschland tätig ist, ist die Fragestellung nach der Bedeutung von Heimat eine persönliche und als Künstlerin, die überall zuhause ist, eine zwangsläufig naheliegende. „Heimat ist mehr als eine nostalgische Erinnerung an den Ort, an dem wir unsere Reise begonnen haben“, so Pisu, für sie gehe es hier nicht um Heimat als „Begriff des reinen Herkunftsnachweises, sondern als Lebensmöglichkeit“. Fragen der Identität sind es, um welche der Abend tänzerisch und musikalisch kreist: „Who are we?“. Aufgeworfen, ohne je beantwortet zu werden, werden diese vom Doppel-Quartett aus vier Tänzer*innen (Marta Jaén, Clara Cafiero, Alfonso Fernandez, David Cahier) aus dem Umkreis des Balletts des Staatstheaters am Gärtnerplatz und vier Musiker*innen (Claus Hierluksch, Ricarda Fuss, Edoardo Zotti, Jure Knez) des renommierten Münchner Arcis Saxophon Quartetts.
Bereits der Veranstaltungsort und das Bühnenbild stehen in Kontrast zum Begriff „Heimat“, welcher einen bestimmten Ort und Schutzraum, ein abgegrenztes Refugium suggeriert: Wie ein Koloss wirkt der in dieser Vorstellung verwaiste, rund 2500 Sitzplätze fassende Zuschauerraum der Münchner Philharmonie, in dem für „Heimat“ nur 100 Zuschauer zugelassen sind. Hier nimmt das Publikum auf Podiumsplätzen der Bühne sitzend eine ungewohnte Perspektive ein und blickt in den offenen Zuschauerraum – groß wie die Welt, wirkt er, durchaus bedrohlich, aber auch interpretierbar als Sinnbild der schier unbegrenzten Möglichkeiten des Reisens durchs eigene Leben und der nicht endenden Suche nach sich selbst. Das reduzierte Bühnenbild besteht aus vier türrahmenhohen Podien, welche den Bühnenkreis abgrenzen, jeweils mit einer nach oben strebenden Leiter versehen und zu allen Seiten hin offen sind – Heimatinsel und Mikrokosmos zugleich. Gemeinsam mit den sie umgebenden Reisekoffern und dem aufgehängten Mantel als einzigen Requisiten offenbart sich eher ein Stillleben des Reisens, als ein beständiger Platz der Heimat.
Zu zweit betreten je ein Musiker und Tänzer die Bühne und nehmen gemeinsam eines der Podien ein – die Musiker die Podiumsplatte oben, die Tänzer den Innenraum. Ihre cremefarbenen Kostüme zitieren mit angedeutetem Mieder und Hosenträgern die 20er und 30er Jahre; die Hochphase des künstlerischen Schaffens eines Dmitri Schostakowitsch, Erwin Schulhoff und Kurt Weill, deren Kompositionen für den Tanzabend arrangiert wurden. Das Vorspiel stammt vom zeitgenössischen Komponisten Wilfried Hiller aus dem künstlerischen Umfeld Carl Orffs, welches er für die Uraufführung unentgeltlich komponiert und dem Ensemble überlassen hat. In seiner Leichtigkeit und dem über allem stehenden Optimismus erinnert dieses an Giora Feidman und schmiegt sich wunderbar an die anderen Kompositionen der vorrangig jüdischen Komponisten an, welche mit ihrer Biografie nicht zufällig selber als Unterdrückte, Vertriebene und ewig Heimatsuchende einen roten Faden in der schlüssigen Dramaturgie des Tanzstücks bilden.
Aus einem Moment der Stille heraus beginnt eine Tänzerin – eher gefangen im goldenen Käfig, als im schützenden Schoß der Heimat – mit einer Handimprovisation, welche das Treppensteigen imitiert und den Beginn der Lebensreise umschreibt. Die anderen Tänzer*innen werden Teil der Bewegungskulisse, in welche Monologe in der je eigenen Sprache und Melodien der Musiker einfließen und sich gegenseitig durchdringen. Räumlich und körperlich begrenzt, finden die Tänzer*innen aus dem Innenraum der Podien heraus zunächst nur zu abgehakten und mechanischen Bewegungen von Kopf und Gliedmaßen. Unterstrichen wird der Eindruck des Gefangenenseins und der Fremdbestimmtheit durch eine Überdominanz der Musik, welche sie fast zu Marionetten werden lässt. Jeder Ton findet zu einer Bewegung, jede Bewegung wird gelenkt von der Komposition. Kein Dialog findet hier zwischen Tanz und Musik statt, sondern die Musik gestaltet sich als subjektiver Ausdruck der seelischen Befindlichkeit des Tänzers, welcher Körper und Bewegung zu folgen haben.
Erst als sich Tänzer Alfonso Fernandez in seinem Solo räumlich befreit, werden auch die Bewegungen raumgreifender, weicher und finden zu ganzkörperlichem Ausdruck. Die anderen Tänzer*innen folgen seinem Vorbild und gehen zu heiter-kecken Klängen Kurt Weills auf Entdeckungsreise – die Stimmung der Neugier überwiegt: Koffer, die zuvor als schutzspendende Verstecke oder Zelte verstanden werden konnten, werden nun zum Ball oder zum Percussions-Instrument umfunktioniert.
Die erst neu gewonnene Freiheit der Einzelperson, oder einer zufällig entstandenen Konstellation an Menschen, ist allerdings nur von kurzer Dauer – es werden immer wieder neue Gemeinschaften gebildet, die sich nicht halten können, womit die Individuen stets auf sich selbst zurückfallen. Die Loslösung von der alten Heimat und Identität gestaltet sich als langwieriger, schmerzhafter Prozess: Als Flucht vor der Einsamkeit wird auch in der Ferne schnell wieder ein neues Zuhause „gebaut“, indem ein Tänzer mit hastigen Bewegungen und schnell hingeworfenen Kreidestrichen nahezu zwanghaft einen neuen Kasten auf den Boden kritzelt. Zu viel luftleerer Raum und Entwurzelung kann erdrückend sein und ein ohnmächtiges Gefühl der Orientierungslosigkeit hinterlassen – Begrenzung, und sei es die eigene, wird als notwendig erachtet. Zu Weills zackiger Gossenhauer-Melodie „Mackie Messer“ aus der „Dreigroschenoper“ schickt Pisu ihre Tänzer*innen abermals auf die Reise: Letztlich nur auf der Suche nach sich selbst, laufen sie als ziellose Individuen in Zickzack-Formation mit weiten, eiligen Schritten haarscharf aneinander vorbei, kreuzen kurz die Wege der anderen und bleiben doch allein zurück. Nur kurzzeitig fungiert ein spontan aufgespannter Regenschirm als provisorisches Zuhause, wo die Tänzer*innen als mechanisches Quartett Halt suchen, welches dieselbe Bewegungssprache spricht, ohne wirklich miteinander zu kommunizieren.
Höhepunkte des Abends sind daher diejenigen kostbaren und raren Momente, in denen wirkliche zwischenmenschliche Begegnung und Berührung stattfindet; ja, menschliche Beziehungen aufgebaut werden, welche das Potential haben den reinen Moment als ein „wir“ zu überdauern. Bei dem lustvoll-sinnlichen Pas de deux der beiden Tänzerinnen zu Weills tangohaft anmutender Melodie der „Zuhälterballade“ kommt nach zaghafter Annäherung der Eindruck der Vertrautheit zweier Freundinnen oder Liebenden auf. Der eigentliche Wendepunkt des Stücks ist jedoch das Duett zwischen Tänzerin Marta Jaén und einem der Musiker – bei welchem sich aus einem spielerischen Flirt ein klanglicher und visueller Liebesreigen entwickelt, hingegossen in fließender Bewegung zur puren Schönheit musikalischer Komposition. Zum ersten und einzigen Mal in „Heimat“ scheint ein Moment vollkommener Ruhe erreicht worden zu sein – ein Moment der Heimatfindung im Selbst.
Erst jetzt vermag sich das nahezu zwanghafte Verhältnis von Musik und Tanz aufzulösen – „Heimatklänge“ sind nicht mehr von Nöten und auch der Prozess der Abnabelung von Bewegung und Musik ist geglückt – die Musiker*innen kehren alleine durch die Mitte des Parketts zurück und verlassen die Bühne. Die Tänzer*innen haben indes wieder zu einer neuen Gemeinschaft im Kreis der ihren gefunden – feiern sich und das Leben mit Wein, Gelächter und Zigarettenrauch. Ob das Ganze von Dauer ist, wer weiß?!
So beschwingt der Abend scheinbar endet, bleiben die Fragen bezüglich des Heimatbegriffs freilich offen und lässt vor allem die aktuellen grausamen Aspekte und Bilder der Unmöglichkeit von Heimat all der Menschen auf Flucht und in Lagern außen vor. Pisus Debut überzeugt dennoch sowohl mit seiner konzeptionellen Dramaturgie, als auch mit der konstant hohen technischen Präzision und interpretatorischen Leistung aller Darsteller*innen. Man darf gespannt sein, auf die folgenden Produktionen der neuen Tanzreihe „Gasteig moves“ in München, und sich freuen auf die kommende Tanztheater-Installation „The Hover“ von Matteo Carvone am 29. und 30. September.
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