„Dark Field Analysis“ von Jefta van Dinther

„Dark Field Analysis“ von Jefta van Dinther

Das war’s

Rückblick auf die Tanzwerkstatt Europa 2019 in München

Die 28. Ausgabe der Tanzwerkstatt Europa 2019 in München präsentierte elf Performances aus elf Ländern und verschiedenste Workshops.

München, 15/08/2019

Walter Heuns magische Zahl ist die Elf. KünstlerInnen aus elf Ländern waren diesen Sommer bei seiner Tanzwerkstatt Europa zu Gast. Das stellte Anton Biebl als neuer Kulturreferent der Landeshauptstadt in seiner Eröffnungsansprache am 31. Juli stolz heraus. Neben der Tatsache, dass auch Münchner Größen wie der Tänzer und Choreograf Stephan Herwig oder die italienischstämmige, stellvertretende Direktorin des Gärtnerplatz-Balletts, Daniela Bendini, zum 11-köpfigen Team der Tanzworkshop-DozentInnen zählen. Vier weitere Lehrer für „Bodywork“ – also körpersensibilisierende Übungseinheiten – mal nicht mitgerechnet.

Seit 2011 ergänzt ein Symposium das an Profis und Amateure gleichermaßen gerichtete Programm, bei dem man sich tagsüber aktiv auspowern und abends in einer Reihe von Performances Bewegung in unterschiedlichsten Anwendungsformaten erleben kann. Thema diesmal war – ganz aktuell – die Digitalisierung. Und so flankierten unter dem Titel „Bodies in transition“ drei offene, kostenfreie Vorträge die Aufführungen der Soloperformerin Teresa Vittucci, der kanadischen Ausnahmetänzerin Louise Lecavalier mit ihrer Eigen-Choreografie „So Blue“ und Anna Konjetzkys „The Very Moment“.

Konjetzkys im Dezember 2018 in Koproduktion mit den Kammerspielen findig entwickelte Auslotung des Unperfekten markierte zugleich die Halbzeit der insgesamt elf über elf Tage verteilten Vorstellungen. In „The Very Moment“ prangten vier Bildschirme über fünf TänzerInnen. Mit mehr realen Interpreten wartete dieses Jahr keiner der eingeladenen Künstlergäste auf. Zudem ließ die in München verortete Choreografin ihre Leute mächtig körperlich schuften und in unbequemen Stellungen gegeneinander antreten. Querverlinkt mit YouTube-Sequenzen wurden so unter Einsatz von tänzerischen Momenten Effizienz und Anfälligkeit des menschlichen Funktionierens überprüft. Der Eindruck, der haften blieb: Bewegung als Mittel zum Zweck.

Ähnliches konnte man am 1. August im nüchternen Schwere-Reiter-Ambiente bei der charmanten Charlotte Le May beobachten. Sie trat für das kroatisch-italienische Choreografen-Duo Barbara Matijević und Giuseppe Chico in den Performance-Ring. Eigentlich aber spielte in deren Solo „Forecasting“ der Laptop die Hauptrolle. Zum Vergnügen des Publikums, denn Le May gelang es, die unglaubliche Abfolge verrücktester Amateurvideos durch verbale Kommentare und hypergenaues Umspielen des Bildschirms in szenische Happenings zu transformieren. Geboten wurde dabei alles – von technischen Anleitungen über den Umgang mit Haustieren oder sexuellen Fetischen bis hin zur Faszination von Schusswaffen. Banale, witzige, kuriose sowie krude Beispiele unserer digital infizierten Gesellschaft, die sich permanent herausgefordert sieht, sich selbst mit blödesten Ideen online zu messen. Perfekt dazu geeignet, mittels gewitztem Körpereinsatz Realität und Netzwelt direkt überlappen zu lassen. Ein Hoch auf die medialen Möglichkeiten! Sie sind momentan im Tanzperformance-Sektor der Verführer Nummer Eins.

Dass digitale Technologien nicht nur unseren menschlichen Körper und sein Verhältnis zu Zeit und Raum verändern, sondern auch unsere Art zu kommunizieren und künstlerische Konzepte neu bestimmen können, zog sich wie ein roter Faden durch die 28. Ausgabe der Tanzwerkstatt Europa, die den Begriff Festival für sich scheut. Dennoch gelingt es PerformerInnen bis heute, die Einbildungskraft der Zuschauer auch ganz ohne Technikbrimborium in Gang zu setzen. Bestes Beispiel hierfür war der seit gut 30 Jahren auf dem Performance-Parkett aktive Brite Charlie Morrissey. Eine Kapazität auf dem Gebiet der Kontaktimprovisation, an deren grundlegenden Prinzipien er in einem Workshop mit TeilnehmerInnen arbeitete.

Für das Abendprogramm steuerte Morrissey ein zunehmend amüsantes Spiel über das, was wir sehen und was wir nicht sehen bei. Kreiert unter anderem rund um Fragmente früherer Werke. Stets darauf bedacht, ja keinen der zuvor über den Boden ausgekippten blauen Bälle zu touchieren, balancierte er am 8. August in seiner jüngsten Arbeit „What’s Not There“ unter viel Einsatz von Sprache durch das Schwere Reiter. Das Kunststück bei diesem solistischen Hindernistanz war, den Spannungsbogen von Anfang bis Ende durchzuhalten.

Die visuelle Grenzerweiterung auf die Spitze getrieben hat die Soloperformerin Teresa Vittucci. Beim Publikumsgespräch hinterher zierte der Aufdruck „Queer/Fat/Feminist“ ihr T-Shirt. Provokation oder Bekenntnis? Die Zuschauer jedenfalls bekamen in „All Eyes On“ eine Stunde lang höchst intime Einblicke in die traurige Einsamkeit eines Live-Chat-Lebens, in dem immer neue Tweets aus der real zugeschalteten Community Teresa Vittucci zu stets drastischeren sexuellen Aktionen anstachelten. Was sie bald nur mehr obenrum mit einem roten Sweatshirt bekleidet auf einem verspiegelten Plateau mit falschen Nägeln, Synthesizer-Tastatur und Lasagne in der Mikrowelle ablieferte, war eine krasse, zwischen Theaterraum und Internet-Öffentlichkeit gut konzipierte Selbstentblößungs-Show. Gewürzt mit winzigen Anflügen tänzerischer Passagen, ansonsten von viel Karaoke- bzw. Playbackgesang getragen. So sorgten bekannte Disney-Songs für tatsachenablenkende Heiterkeit.

Ganz anders Louise Lecavalier. Einziges Spielzeug der ehemaligen Frontfrau der kanadischen Tanztruppe „LaLaLa Human Steps“ ist ihr energiegeladener Körper. Schon vergangenen Sommer stellte die drahtig-alterslose Senior-Tänzerin unter Beweis, dass physische Kondition nicht unbedingt etwas mit Jugend zu tun haben muss. Auch dieses Jahr konzentrierte sich in ihrer Choreografie „So Blue“ alle Spannung auf ihre hyperschnellen, wie von Elektrizität durchströmten Bewegungen. Egal ob auf zwei gummiballartig hüpfenden Füßen, auf allen Vieren oder einer verträumten Sequenz im Kopfstand. Nach einiger Zeit ließ sie ihren Partner Frédéric Tavernini dazu stoßen.

Mit seinem Hintergrund als ehemaliger klassischer Solist brachte er an Lecavaliers Seite robotig-fließende Moves zustande, die ihn regelrecht knochenlos erscheinen ließen. Mehr braucht eine Performance-Ikone wie die Lecavalier nicht, um ihr Publikum zu fesseln. Mit Tanz pur in einer von Scheinwerfern umstellten Arena. Den Boden architektonisch durch Rechtecke aus Licht und Klebemarkierungen für immer neue Bewegungsattacken und Wege unterteilt. Ohne Schockeffekte ein absolutes Tanzhighlight voll intensiver, schier atemberaubender Leichtigkeit und virtuos bis heftigen Begegnungen im Duett zu einem eindringlichen Soundteppich des türkischstämmigen Musikers Mercan Dede. Zweifellos der Höhepunkt bei der Tanzwerkstatt Europa.

Glücklich zudem, wer einen Platz in ihrem und Frédéric Taverninis Kurs „Intensive Training & Creative Sessions“ oder bei dem ehemaligen Bausch-Interpreten Dominique Mercy („Danser“ & „Solo en face de Pina Bausch“) ergattert hatte. Woran das Team der DozentInnen die vergangenen zehn Tage gearbeitet hatten, bekam die Öffentlichkeit wie stets zum Abschluss am 10. August in einer „Final Lecture“ zu sehen.

Eine Enttäuschung dagegen musste man gleich im Anschluss an Lecavaliers rhythmusgepeitschten Tanzabend verdauen. Für „Candy’s Camouflage“ ließ das 2005 gegründete Wiener Kollektiv Liquid Loft sich von Andy Warhols frühen filmischen Arbeiten inspirieren. Doch anstelle eines genreübergreifenden künstlerischen Austauschs konnte man über 70 Minuten verfolgen, dass zu viel Engagement und Raffinement im Produzieren gewiefter, inhaltlich genutzter Bildprojektionen sowie das permanente Hantieren der drei körperlich wie sprachlich ausdrucksvollen Interpretinnen mit Scheinwerferlicht und Livekameras eine Produktion in Langeweile und letztlich Aussageleere stürzen. Das große apotheotische Aufrauschen am Ende verpuffte in der aufwendig vor einer breiten Projektionswand verkabelten Muffathalle. Trotz immer wieder neuer visueller Perspektiv-, Schnitt- und Multiplikationsvarianten der Tänzerinnen, die ihre knappen Klamotten je nach Sequenzbedarf mehrfach ummodelten, versiegte der performative Zauber im Stil eines zeitgenössischen Monte Vérita allzu bald aufgrund der beliebigen Reproduzierbarkeit einer Nicht-Narration. Viel Lärm um nichts, wofür es zu Recht nur müden Applaus gab.

Zuletzt entfaltete der Schwede Jefta van Dinther in „Dark Field Analysis“ – einem ungewöhnlichen Text-Bewegungs-Duett zweier nackter Männer auf einem Teppichquadrat – einen Intensitätskatalog des Lebendigseins. Herausgefordert wurden dabei vor allem die Augen, denn nach und nach tauchten die beiden Performer Juan Pablo Cámara und Roger Sala Reyner in grün, später rot schimmernde Dunkelheit ab. Zwei menschliche Wesen, die im Prozess der Erinnerung an einen Sturz unter einer Soundwolke von David Kiers und PJ Harveys in die Mikroports geraunten Songs „The Slow Drug“ und „Horses in my Dreams“ zu einer amorphen, über den Boden wabernden Masse mutieren. Was als Frage-Antwort-Konstrukt in Slow Motion mit wiederholt roboterartigem Bewegungsfluss begann, kulminierte schließlich unter einem von der Decke hängenden Neonleuchten-Geviert in der schlichten akrobatischen Übung des Schulterstands. Gestützt vom Partner reckte der oben Stehende langsam einen Arm in die Höhe. Ein berührender Moment im intimen Total-Theater-Ambiente.

Ganz ähnlich, nur sehr viel schwindelerregender ging es in der Eröffnungsproduktion „Ghost Writer and the Broken Handbreak“ zu. Eine knappe halbe Stunde mussten die Haarlocken-Zwillinge Pieter De Meester und Wietse Tanghe zu Seiten der belgischen Performance- und Installationskünstlerin Miet Warlop um die eigene Achse kreiseln. Nach und nach beschwert mit Trommel, E-Gitarre und riesigem Gong. Ästhetisch gefangen im Licht dreier mobiler Deckenspots und eingepfercht in ein Rondell aus Zuschauern. Ideengeber hier war das Zeremoniell sufistischer Drehtänze. Miet Warlop aber stellte eine elektronisch verkabelte und hypnotisierte Rockband auf die Beine, deren anfängliche Atemgeräusche bald in Heavy-Metall-Gesang übergingen. Im Bann des permanenten Rotierens galt es auszuharren bzw. sich entweder von den Schallwellen oder den nachtverschatteten Lyrics innerlich forttragen zu lassen. Bis gleißende Saalbeleuchtung und abrupte Stille Künstler wie Publikum rabiat aus der Grenzerfahrung heraus rissen. Tanz oder inszeniertes Konzert? Wie auch immer – als Auftakt blieb der Zwitter insgesamt recht überschaubar. Abschließend aber wurde deutlich: Die Suche nach kommunikativer Wucht im Bereich zeitgenössischer Tanzperformance geht weiter. Erlaubt ist eigentlich alles. Egal welcher Generation man angehört. Nur funktionieren sollte das Ganze schon!
 

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