Das war’s
Rückblick auf die Tanzwerkstatt Europa 2019 in München
Markéta Stránska/Charlie Morrissey: „Scáling“
Halbzeit bei der Tanzwerkstatt Europa: Markéta Stránská betritt die Bühne im Schwere Reiter auf Krücken. Begleitet wird sie von Charlie Morrissey, der sich als Regisseur und Choreograf, Dozent und Forscher schon sein halbes Leben mit Performance und Contact Improvisation auseinandersetzt. 20 Jahre Altersunterschied liegen zwischen ihm und seiner Tanzpartnerin. Doch was ihr sehr physisches Duett „Scáling“ im Münchner Schwere Reiter so besonders macht, ist dessen Behutsamkeit – gefolgt von einer kontinuierlichen Steigerung des stets eng in Beziehung zueinander sich entfaltenden Bewegungsmaterials. Man übersieht dabei zunehmend, dass die kraftvolle 44-jährige Tänzerin, die auch selber choreografiert und als Physiotherapeutin arbeitet, nur ein Bein besitzt. Indem sich Stránská und Morrissey über Blicke und Berührungen vor jedem Positionswechsel stumm abstimmen, vermag jeder die Einschränkungen des anderen aufzufangen. Der momenthaften Dynamik ihrer Hebungen und Drehungen steht nichts mehr im Weg. Gemeinsam arbeiten sie sich in die Höhe, lassen sich aus der Balance kippen, rollen zu Boden, greifen um und finden immer wieder neuen Halt. Mittels teils akrobatischer Impulsivität von in sich verzahnten Interaktionen gewinnt das Stück an Intensität. Zwischendurch gehen die beiden auch mal auf Distanz zueinander – ohne ihre Verbundenheit aufzugeben. Oder sie halten inne und beziehen die um die Tanzfläche platzierten Zuschauer bewusst ihn ihr sensorisches Körper-Raum-Spüren mit ein: berührend wie beeindruckend. Mit 25 Minuten ist „Scáling“ in seiner funktionalen Intimität der kürzeste unter den ersten fünf gezeigten Gastproduktionen. Zugleich besitzt es in seiner Reduktion auf den leeren Raum eine hohe motorische Qualität. Die dezente Soundkulisse und der Verzicht auf Lichteffekte hat vieles mit den Arbeiten der Kollegen gemein.
Alexander Vantournhouts „Foreshadow“
Gleich zur Eröffnung der Tanzwerkstatt setzte Alexander Vantournhout mit seinem Neuling „Foreshadow“ – einem zirzensischen Schaustück voller Äquilibristik zu experimentell-soften Rocksounds der Band „This Heat“ – in der Muffathalle einen ersten Glanzpunkt. Das Grundprinzip der Choreografie wird durch ein Trio vorgestellt: physische Kinetik durch Anziehung und Abstoßung der Körper. Wie Kugeln eines Newtonpendels befeuern sich die insgesamt acht Tänzerinnen und Tänzer – ständig in unterschiedlichsten Konstellationen – mit neuer Energie. Ihr Abklatschen und die geschwinden, fluiden Platzwechsel kulminieren teils in hübschen Mustern, die bisweilen an die Blütenkränze von Passionsblumen erinnern können. Der Clou des Ganzen ist aber, wie die Protagonisten nach und nach nicht nur das flache Terrain, sondern zudem – als wollten sie es mit der Haftkraft von Geckos aufnehmen – die hinten aufragende Wand für ihre halsbrecherischen Turnereien in Beschlag nehmen. Innerhalb starker Raumstrukturen bzw. mittels wiederkehrender Klangmuster versuchten alle eingeladenen Tanzschaffenden, das Publikum in und mit ihren Werken einer sehr körperlichen Konzentration auszusetzen. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer wird auf kleinste Verschiebungen, Veränderungen und seltener auf eine mögliche Individualität einzelner Akteure gelenkt.
Jefta van Dinthers „Unearth“
Bei Jefta van Dinther konnte man beispielsweise in der Freiheitshalle zum passiven Teil einer extrem meditativen und zutiefst existenziellen Trauerklage werden. Sein „Unearth“ spielt mit tranceartigen Zuständen und erzählt von Niedergedrücktheit, Verlorenheit, Kummer und Tod. Etwa zwei Stunden dauert ein Zyklus, dann beginnen die vereinnahmenden acht Performerinnen und Performer einschließlich van Dinther selbst mit ihren Gesängen, ihrem gekrümmten Umherwandeln und ihrem animalischen Kriechen auf allen Vieren von vorn. Das Publikum sitzt verstreut auf Kissen. Gehen und (Wieder-)Kommen ist jederzeit erlaubt. Im Tageslicht des Spätnachmittags geht es los. Anfangs fällt einem nur die singende Frau auf, die sich über eine andere, vor ihr liegende, beugt. Langsam lösen sich weitere, wackelig dahin schlurfende Gestalten aus dem Randbereich des Saals. Auch sie lassen ihrem Schmerz stimmlich in unmittelbarer Nähe der Zuschauer freien Lauf. Ab und an überkommt sie der Drang, sich in einer Gruppe zusammen zu schließen. Dann zieht die Meute – wie katzengleich dahinschleichende Echsen mit in sich gekehrten, abwesenden Blicken – durch den Raum. Ihre kreatürliche Suche nach Erlösung, Hilfe und Hoffnung, was letztlich alles ausbleibt, endet in der Dämmerung nach vier Stunden in einem erneuten kollektiven Aufsagen von Mantras. Wundersam schön daran ist, dass sich eine derart undefiniert trostlose und zugleich menschlich tiefe Erfahrung – zeitlich wie physisch repetitiv-beschränkt und sich auf Wagner-Ausmaße erstreckend – nicht zum Besucherkiller auswächst.
Cola Ho Lok Yees „Emma’s Jaw“ & Daria Kovals „Pyx Onopy – Resistance Movement“
Emotional krude, voller Elan und keine Minute zu lang überzeugte dagegen der Doppelabend im Theater Hoch X mit Soloarbeiten von Cola Ho Lok Yee (Hong Kong) und Daria Koval (Ukraine). Hier setzten sich nacheinander zwei junge persönlichkeitsstarke Tänzerinnen mit dem Phänomen der Selbstzerstörung und Bewältigung persönlicher Traumata auseinander.
Auslöser für „Emma’s Jaw“ war ein Selbstmord. Daran lässt Cola Ho Lok Yee keine Zweifel. Auf einer Plastikplane – im Schutzanzug und einen durchsichtigen Eimer mit Wasser über dem Kopf – probt sie das Ertrinken. Zarte Wellen durchströmen ihre Arme. Die kraftloser werdenden Bewegungen konterkarieren ihr sonstiges dynamisch-elastisches Vokabular. Hinter einem mit Äpfeln, zwei Kuchentellern, Tomaten und Erdbeeren in Boxen vollgestellten Tisch startet sie durch. Rot sind ihr Kostüm, die Lebensmittel und zwei Stühle. Sie outet sich als Einzelkind zwischen Mutter und Vater, getrieben von einer niemals genügenden Notwendigkeit nach Symmetrie. Das hat Drive und Brisanz.
Erst barbusig im Folklorerock und roter Kette, dann wie eine Schlafwandlerin im nassen, weißen Gewand agiert Daria Koval tänzerisch vergleichbar expressiv wie einst Ausdruckstänzerinnen à la Mary Wigman. Während ihre Kollegin mit Worten und Texteinblendungen operiert hat, ergänzen im ersten Teil von „Pyx Onopy – Resistance Movement“ Interviewpassagen der vor dem Krieg Geflüchteten aus dem Off die Fakten hinter aufgewühlten Gesten und wohlgesetzten Schritten. Zu Musik von Max Richter findet Koval später zurück zu einer inneren Stabilität und Ruhe. Beide Stücke sind schon deswegen geglückt, weil sie dem Zuschauer Raum für weitere Assoziationen lassen.
Taoufiq Izeddious „Border_Line“
Freiheit, das bei anderen Ankommen und individuelles Wohlfühlen hat seinen Preis. In geometrische Formen lassen sich solche Bedürfnisse nicht zwängen. Ein Viereck als Tanzbodenmitte, ein abmarkierter Weg darum herum, gerade Linien und zusätzliche metallene Winkel bestimmen schon optisch, um was es den drei Tänzern und einer Tänzerin in „Border_Line“ der marokkanischen Truppe „Cie Anania Danses“ von Taoufiq Izeddiou geht. Schrittweise hebeln sie die Grenzen aus, die ihre Eigenheiten ebenso beschränken wie das Zusammenleben. Der anfänglich dichte Nebel, der die sonnige Atmosphäre im Raum der Muffathalle trübt, lichtet sich. Stangen und Klebeband werden zu Requisiten umfunktioniert. Zum Schluss ragt eine unförmig-kantige Skulptur in die Höhe. Ein Tänzer in einem goldenen Umhang dreht sich darunter. Als Schlussbild mag das kitschig sein. Umso deutlicher spiegelt sich hier jedoch der Bruch zu jeder zwanghaft totalitären Klarheit europäischer Prägung wider.
Den zweiten Teil des Berichts zur Tanzwerkstatt Europa finden Sie hier auf tanznetz.de
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