„Ghost Writer and the Broken Hand Break“ von Miet Warlop
„Ghost Writer and the Broken Hand Break“ von Miet Warlop

Grenzen des menschlichen Körpers

Die Eröffnung der Tanzwerkstatt Europa 2019 in München

Miet Warlops „Ghost Writer and the Broken Hand Break“ und „Forecasting“ von Giuseppe Chico und Barbara Matijevic testen die Grenzen des menschlichen Körpers; einerseits seiner Leistungsfähigkeit und andererseits seiner Erweiterung durch moderne Technik aus.

München, 03/08/2019

Bereits seit 28 Jahren richtet JOINT ADVENTURES alljährlich zur Theater-Sommerpause die TANZWERKSTATT EUROPA aus. Zehn Tage lang wird München zum Hotspot für zeitgenössischen Tanz und Performance. Den Anfang machte dieses Jahr Miet Warlop. Die belgische Künstlerin zeigte in der Muffathalle ihr neuestes Stück „Ghost Writer and the Broken Hand Break“, mit dem sie im September des vergangenen Jahres in Gent Premiere feierte.

Bereits während der Einlassphase befinden sich die drei PerformerInnen auf der Bühne, jeweils von einem Spot angestrahlt, die Arme im 90-Grad-Winkel von sich gestreckt und sich schnell um sich selbst drehend. Das Publikum steht oder sitzt um sie herum auf dem Boden, kann somit ebenso wenig entspannen wie die PerformerInnen, die sich während der 45-minütigen Performance fast unaufhörlich drehen und dabei bis zur äußersten Erschöpfung verausgaben.

Ein tiefer Basston wird eingespielt, der sich steigert und schließlich in einem rhythmischen Beat gleich einem rasenden Herzschlag kulminiert. Beim Drehen geht es nicht um technische Präzision oder Synchronität. Vielmehr offenbart es einen ekstatischen Kontrollverlust, den die PerformerInnen z.B. mit „break the hand break and hit the wall“ besingen.

Das ekstatische Drehen in Warlops Arbeit wurde inspiriert durch den Drehtanz, einer der ältesten Techniken des Sufismus. Dort wird in einem stillen Monolog das innere Sein zum Drehpunkt und der Körper zum wirbelnden, kreisenden Rad. Durch die Verbindung von Musik, Tanz und Rhythmus soll sich der Körper von der Nüchternheit des Alltags über eine glückselige Ekstase bis hin zur Nüchternheit höherer Ordnung transformieren.

Mit jeder Minute wirbeln die PerformerInnen immer mehr in einen Rausch, der verbunden wird mit anderen Ursachen für Rausch wie Drogen oder Musik. Einer zündet sich in der Bewegung eine Zigarette an, den anderen werden Musikinstrumente gereicht. Sie spielen, rezitieren, rappen und singen, die Live-Musik verschmilzt mit der Musik vom Band, wird eskalativer und gipfelt schließlich in einem spürbaren Techno-Beat. Körper und Bewegung kommen zum Einklang, auch beim Publikum, das durch die unmittelbare Nähe in die Performance und deren Ritual- und Rauschhaftigkeit hereingezogen wird.

In nur zwei Momenten, während eines Drops in der Musik und am Ende, unterbrechen die PerformerInnen ihren Drehtanz und bleiben stehen. Ironischerweise wird genau dann und auch nur dann die extreme Anstrengung, ja absolute Erschöpfung offenbart. Der Performance gelingt es auf die ZuschauerInnen eine hypnotische Wirkung auszuüben, die bewirkt, dass die permanente Drehung als Ordnung und Einheit und das plötzliche Stehenbleiben als Ausfall, als störend wahrgenommen wird.

Durch das Austesten der Grenzen des menschlichen Körpers, dessen Leistungsfähigkeit und Kondition kreiert Miet Warlop eindrucksvoll ein experimentelles Ritual, das Publikum und PerformerInnen zu einer Einheit verschmelzen und sie Teil eines ekstatischen Wahrnehmungserlebnisses werden lässt.

Während Warlop die Grenzen des menschlichen Körpers hinsichtlich seiner Belastbarkeit untersucht, experimentieren der Italiener Giuseppe Chico und die Kroatin Barbara Matijevic in ihrem Projekt „Forecasting“ mit der Erweiterung der körperlichen Grenzen durch moderne Technik und deren Verhältnis zueinander. Das Stück, das sie am 01. August im schwere reiter zeigten, ist die sechste Kollaboration des Duos und wurde seit der Premiere am 05. März 2011 in Brüssel weltweit über 60 Mal gezeigt.

Chico und Matijevic haben sich für „Forecasting“ einer Vielzahl von Amateur-YouTube-Videos bedient, die sie in arbiträr wirkender Reihenfolge auf einem Laptop, der in der Bühnenmitte platziert wird, abspielen lassen. Die Bandbreite der Videos reicht von Tutorials zu alltäglichen Aufgaben wie Kochen und Zähneputzen über Entspannungsvideos bis hin zu Videos, in denen Fetische ausgelebt werden. Die Übergänge funktionieren assoziativ über Stichworte und kreieren so teils absurde Zusammenhänge.

Performerin Charlotte Le May ergänzt die Videos mit ihrem Körper. Mit technischer Präzision steht, sitzt und liegt sie so da, dass die Hände, Füße usw. in den Videos als virtuelle Verlängerung ihres reellen Körpers wirken. Mal wird der Originalton der Videos abgespielt, mal werden sie von Le May „synchronisiert“. Körper und Technik werden zu einer Einheit, der menschliche Körper erscheint durch die schier unendliche Flut an Videos auf YouTube grenzenlos. Ganz in der Natur des Internets erlebt man* als ZuschauerIn in „Forecasting“ durch die Art der Videos einen sekundenschnellen Wechsel von Lachen zu Ekel, von Verständnis zu Befremdung.

So innovativ das Konzept zu Beginn erscheint, so schnell verliert es im Laufe der 50-minütigen Performance an Originalität. Nachdem das Prinzip der körperlichen Ergänzung der Videos gleich zu Beginn eingeführt wird, stagniert die Performance, da sich ästhetisch nichts mehr verändert. Die Spannung beschränkt sich folglich nur noch darauf, welche Videos als nächstes gezeigt werden. Die Videos selbst und deren sozialer Impact auf die heutige Gesellschaft werden nicht kommentiert oder kritisch betrachtet, sie stehen nur für sich selbst da.

Lediglich manche Videos tragen in sich selbst subtil Sozialkritik, so zum Beispiel ein Zusammenschnitt mehrerer verharmlosender, romantisierender Tutorials zur Benutzung von Schusswaffen, bei dessen Höhepunkt, nämlich einem Kugelhagel, potenzielle Gefahren durch die Nutzung des Internets und die Abgründe, in denen sich dort bewegt werden kann, offenbar werden. Am Ende des Abends bleibt aber doch eher die Absurdität und der Witz der mit Körper und Technik kreierten Bilder in Erinnerung und nicht etwa die subtil mitschwingende Kritik an sozialen Medien.
 

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