Mit 50 Minuten im Prinzregententheater und einer Kompanie wie dem Bayerischen Staatsballett könnte man Einiges anfangen. Man könnte Prinzessinnen und Sylphiden wirbeln lassen, große Choreografen zitieren oder mit emotionalen Pas de deux in die jüngere Tanzhistorie eingehen. Dustin Klein, Demisolist am Staatsballett und als Choreograf bereits mit einigen Werken etabliert, wählt einen anderen Weg. Er tut, was ein moralisch integrer Mensch tun muss und widmet die Chance –
dem Schwein. Dem gemeinen, deutschen Schlachtschwein, über dessen Schicksal niemand etwas hören will. Doch an diesem Abend muss man. Denn Kleins Stück „Abferkeln“, das in einer Reihe mit Werken des Tschechen Štěpán Pechar, des chinesischstämmigen Niederländers Menghan Lou und des New Yorkers Peter Walker aufgeführt wird, ist der Großteil des Abends gewidmet.
Eigentlich ist „Abferkeln“ eine Schauspielperformance. Ein Großbauer, merkwürdig poetisch und teils auch hysterisch gespielt von Luis Lüps, erklärt dem Publikum unangenehme Wahrheiten: wie Ferkel in den ersten sieben Tagen ihres Lebens kastriert und kupiert werden, wie die Marke ans Ohr getackert wird, wie sie gemästet werden. Dabei wird er immer nervöser. „Das Ökosystem geht den Bach runter! Aber wir müssen auf unsere Zahlen kommen. Deutschland muss auf seine Zahlen kommen!“, kreischt Bauer Lüps am Höhepunkt seiner Ausführungen, während er fast am unterdrückten Gewissen erstickt.
Um den Bauer schwänzeln Jonah Cook, Matteo Dilaghi, Maria Daniela Gonzales, Erik Murzagaliyev und Dustin Klein als Schweine herum. Als Klangkulisse fungiert die Elektrokomposition „One Pig“ von Matthew Herbert, der die Geräusche aus dem Leben eines Schweins zu rhythmischen Musikstücken geformt hat. Es grunzt, schnaubt, Ketten rasseln, Stalltüren quietschen und die Tänzer vollbringen etwas, was es bisher wohl kaum gegeben hat: Sie spielen gleichzeitig Schweine und Menschen. Denn Kleins Idee vom getanzten Schwein ist weder manieristisch noch allegorisch, sondern natürlich. In die am Boden wuselnden, sich ineinander verknäulenden Wesen lässt sich nichts hinein interpretieren. Sie tun, was alle Lebewesen tun: sehen, futtern, spielen, abstumpfen. Für die Tänzer bedeutet das ausgiebige Bodenarbeit, gepaart mit Unschuld und Hemmungslosigkeit im Ausloten der Rumpf-, Arm- und Beinbewegungen. Umso beeindruckender ist es, wenn Jonah Cook aus der anonymen Schweinefamilie heraustritt und ein kurzes Solo gibt. Staunend über diese große, merkwürdige Welt blickt er um sich und zieht seine unergründlichen, animalischen Schlüsse. Das ist schweinisch, das ist menschlich, das ist alllebendig.
In dem Stück geht natürlich nichts gut aus. Die Lebensgeschichte des Schweins wird bis zur Schlachtung und darüber hinaus vorgetragen. Dustin Klein lässt sich persönlich vom unsichtbaren Elektroschocker betäuben, schlachten, aufhängen und ausweiden. So mancher Zuschauer hat es kommen sehen und ist aus dem Saal geflüchtet. Was, wenn es hier um Menschen ginge, nicht um Schweine? Diese Frage, die unweigerlich in einem hochkommt, erträgt man nicht so leicht. Auch deshalb, weil in einer Szene mehr als 40 Schweinestatisten in einen Stall gedrängt werden – die Anspielung auf Konzentrationslager ist nicht zu übersehen.
Ob die Zuschauer es Klein übel nehmen, dass er sie in die moralische Falle gelockt hat oder dankbar sind, dass er sie auf tänzerische Art aufs Schwein gebracht hat – das wird sich am künftigen Erfolg des gebürtigen Landsbergers zeigen. Lust auf Wiener Würstchen hatte zuletzt jedenfalls niemand mehr.
Schon vorher versetzte Menghan Lou das Auditorium im Prinzregententheater in melancholische Stimmung. Sein Stück „To & from“ zum eigens beauftragten Klavierstück von Thijs Scheele schickt acht Tänzer auf Reisen, mit Heimweh und Wurzellosigkeit als ständigem Begleiter. Viel gehetztes Miteinander ist hier zu sehen, und viel Effekthascherei mit Stühlen, von Laolawellen im Seitprofil bis zur Reise nach Jerusalem. Andererseits gab es ein Duett zwischen Jonah Cook und Séverine Ferrolier, eine seltene und Ehrfurcht gebietende Paarung, mit Hebungen und Rädern, in denen sich die beiden ständig gegenseitig drehten – was anstrengend anzuschauen war, aber auch fesselte.
Mit Štěpán Pechars umwelt- und gesellschaftskritischem, dennoch optimistischen „Waste“ hatte eigentlich alles gut angefangen. In dem 25-Minüter werden die unbeschwerten Duette eines jungen Paars von schwarzen Figuren unterbrochen, die ein Ballett mit Müllsäcken veranstalten. Erst synchron, dann immer komplexer wächst sich ihr alles erfassender Tanz aus, zuletzt kann sich keiner mehr entziehen. Die Säcke klatschen auf den Boden, rotieren, fliegen im Kanon wie bei Petipa. So gelungene Gruppenchoreografien sind selten. Dass die weibliche Hälfte des Pärchens am Ende im Müll verschwindet – man ahnt es und bleibt trotzdem bei Laune.
Das, was die Münchner sich im Ballett eigentlich wünschen, bekamen sie erst in den letzten 16 Minuten: ein bezauberndes, lebensfrohes Ballett wie ein Sommerabend in der City. Der New Yorker Peter Walker ist sichtlich von berühmten Vorgängern wie Jerôme Robbins und José Limón beeinflusst, und so lieferten seine zwei Paare (Prisca Zeisel mit Jinhao Zhang, Ksenia Ryzhkova mit Metteo Dilaghi) und Solist Dmitrii Vyskubenko einen unterhaltsamen Rausschmeißer voller Arabesken, geradezu durchgedreht schnellen Füßen und verwegenen Pirouetten. Ein bisschen weniger Fußarbeit wäre fast mehr gewesen. Allerdings sind die „Morpheus Movements I-III“ von Oliver Davis einfach zu verführerisch, das ist Musik, die muss man bis in die letzte Note austanzen. So gingen die Zuschauer trotz schwerer Kost zuletzt halbwegs erbaut auf die Prinzregentenstraße hinaus. Wenn auch sicher nicht zum Schweinsbratenessen.
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