Jenseits von schwarz und weiß
Osiel Gouneo stellt seine Autobiografie vor
Interview mit Wayne McGregor: Neuer Ballettabend am Bayerischen Staatsballett
Das Bayerische Staatsballett präsentiert sich im zeitgenössischen Dreiteiler „Portrait Wayne McGregor“ in ungewohntem Look: turbobiegsam, aus der Balance gekippt und mordsmäßig verschraubt. Emotionen, Grenzüberschreitungen und Sinnlichkeit sind bei „Kairos“ (2014), „Borderlands“ (2013) und der Uraufführung „Sunyata“ nicht nur inbegriffen, sondern Grundvoraussetzung.
Wayne McGregors zeitgenössische Ballettkreationen sind physisch anspruchsvolle Powerwerke, die mit ausgesuchten Themenideen oder spirituell aufgeladenen sind. Der Betrachter wird nicht durch konkrete Handlungsstränge in Bann gezogen, sondern im besten Fall durch ein unwiderstehliches Fluidum aus extremen Bewegungsfindungen. Geschmeidig und zackig zugleich. Freilich klappen tänzerisch derart hochkomplexe Evolutionen der Körper im Raum nicht stets auf Anhieb.
Die Stimmung im Probensaal des Bayerischen Staatsballetts am Platzl ist dennoch relaxed. Ksenia Ryzhkova lacht. Tief in einen Halbspagat abgesunken, steckt die 24-jährige Erste Solistin plötzlich in einer Position fest, aus der sie nur ihr Partner Jonah Cook befreien kann. Mit einem Ruck soll er sie zu sich hoch und in eine Arabesque reißen. Typisches McGregor-Charakteristikum: Tänzer auf technisch präzise Artikulation trimmen, dann ab- und auseinanderdriften lassen, nur um sie kurz darauf neu miteinander zu verfugen.
Selbst bei rasantem Tanzfluss wird ständig weiter an Richtungswechseln, zerklüfteten Linienführungen, butterweichen Schwüngen und Tempoänderungen geschraubt. Diese Streckung des Beines bitte bis ultimo auskosten, signalisiert der britische Choreograf mit weiten Armgesten. Dann presst er – fast ununterbrochen um seine Interpreten herumtwistend und wie ein Bildhauer mal hier, mal dorthin greifend – Luft durch seine Zähne. Es zischt. Zum Umgreifen, Rotieren und um sich neu aufeinander auszurichten, hat das Paar eine knappe Sekunde…
Solch energetische Ausdruckskraft im Spannungsfeld von Slow Motion und Höchstgeschwindigkeit macht neugierig auf den Premierenabend, der seit langem wieder einer Choreografenpersönlichkeit gewidmet ist. Eine klare Ästhetik aus Set- und Lichtdesign verleiht jedem McGregor-Stück seine ganz eigene Prägung. Bühnenlandschaften, wie gemacht für Tänzer, die ganz in der Herausforderung aufgehen, Grenzen der eigenen körperlichen Möglichkeiten weiter auszuloten.
Herr McGregor, seit 25 Jahren leiten Sie Ihre eigene Kompanie. Zudem haben Sie ein eigenes Tanzzentrum in East London, sind seit 2006 Hauschoreograf des Royal Ballet, Professor für Choreografie, arbeiten international, brennen für wissenschaftliche Forschungen, interdisziplinäre Kollaborationen und technische Innovationen. Ein Megapensum. Wie konnte Igor Zelensky Sie für München gewinnen?
Wayne McGregor: Wir kennen uns seit den 1990er Jahren. Als Igor hier Ballettdirektor wurde, bat er mich gleich zu kommen. Er will die Kompanie auch auf ein stilistisch andersartiges Terrain führen. Und von mir hat er sich ein neues Werk gewünscht. Mich interessiert immer, mit Tänzern zu arbeiten, die bereits existierende Arbeiten neu interpretieren. Es ist einfach spannend zu verfolgen, wie sie sich dieses Material zu eigen machen.
Haben Sie die Stückauswahl persönlich getroffen?
Wayne McGregor: Ja. Mir war die Zusammenstellung eines musikalisch abwechslungsreichen Programms wichtig. Außerdem sollten möglichst viele Ensemblemitglieder beteiligt werden. „Kairos“, das Eröffnungsstück, interpretieren fünf Tänzerinnen und fünf Tänzer. Es geht darin um das richtige Timing, den idealen Augenblick einer Entscheidung. Fundament der Choreografie ist die Neubearbeitung von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ durch den Komponisten Max Richter. Für uns eine Art akustischer Erinnerungsraum. Man glaubt zu kennen, was man hört, doch dann klingt alles völlig anders.
Und das Bayerische Staatsorchester spielt live dazu?
Wayne McGregor: Genau – unter der musikalischen Leitung von Koen Kessels, der eigens aus London kommt. Er ist Musikdirektor des Royal Ballet und mit meinen choreografischen Eigenheiten bestens vertraut (lacht). Er wird die Musiker auch durch unsere Neukreation „Sunyata“ führen, die im Zentrum des Abends steht. Tänzer lieben es, wenn Stücke auf sie zugeschnitten werden. Es ist eine Herausforderung, bei der man sich gegenseitig kennenlernt. Und nichts ist inspirierender als die Erfahrung, gemeinsam ein neues Werk auf die Bühne zu bringen.
Wie sind Sie vorgegangen?
Wayne McGregor: Mein Ausgangspunkt war das Musikstück „Circle Map“ der zeitgenössischen finnischen Komponistin Kaija Saariaho, das inhaltlich auf sechs vierzeiligen Gedichten des persischen Sufi-Mystikers Rumi basiert. Schwer zu tanzen für die vier Frauen und vier Männer, aber als physisches Experimentierfeld gerade deshalb so aufregend – sowohl für mich als auch für die Interpreten.
(McGregor zückt ein dünnes Heft. Darin hat er fein säuberlich die minutiöse Analyse der fremdartigen, geisterhaft-schrägen Klänge für großes Orchester, viel Schlagwerk und Elektronik notiert. Geheimniskrämerei ist dem 1970 in Stockport (England) geborenen Tausendsassa fremd. Stets zuvorkommend und entspannt zeugen seine Erläuterungen von lebhafter Begeisterung. Seit er aus der freien Szene in die Ballettwelt vordrang, praktiziert er freigiebig das Prinzip des Gebens und Nehmens. Das Publikum wird von ihm auf Entdeckungsreise geschickt.)
In „Borderlands“, dem Finalstück des Abends für zwölf Tänzer, setzen Sie sich mit dem Bauhaus-Künstler und Farbtheoretiker Josef Albers auseinander. Auf welche Weise genau?
Wayne McGregor: Ich wollte herausfinden, wie man den kaum wahrnehmbaren Schwellenbereich zwischen zwei Farbflächen im Tanz umsetzen und erlebbar machen kann. Wir spielen mit Sehgewohnheiten, der Wahrnehmung und damit, wie Farben Stimmungen, Gefühle und Atmosphäre verändern können. Innerhalb dieser Umgebungsskala, inmitten der Bilder zu sein, darum geht es in „Borderlands“. Bewegung und Malerei, Licht, Kostüm und Sound – alles tritt in Verhältnis zueinander. Tonkünstler Paul Stoney und Elektronik-Komponist Joel Cadbury haben dazu Musik geschaffen, die recht aggressiv und raumgreifend ist. Ihre Wirkung von Band ist enorm.
Was bedeutet Ihnen das klassische Ballett?
Wayne McGregor: Es ist eine fein artikulierte Sprache. Ein perfekt eingespieltes, wunderbares Instrument, das dem Künstler in seinen Ausdrucksmöglichkeiten aber auch Grenzen setzt. Ich kreiere Erfahrungen, die die visuellen, akustischen und kinästhetischen Sinne der Zuschauer stimulieren sollen. Ein Werk kann emotional berühren oder intellektuell herausfordern. Oft überschneiden und verlinken sich verschiedene Bedeutungs- und Interpretationsebenen. So bleibt jede Choreografie offen für persönliche Assoziationen. Richtig oder falsch existiert beim Begreifen von Tanz nicht.
„Portrait Wayne McGregor“: 14.4. (Premiere), 15., 28.4.; 11., 18.5.,12., 23.6., 10.7.; jeweils 19:30 Uhr, Nationaltheater.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments