Zurück in die Zukunft
Letzter Premierenabend beim Bayerischen Staatsballett dieser Spielzeit mit „Sphären.01/Goecke“
Kalt pfeift der Wind am Meer. Die Wogen auf der hinteren Bühne von Michaela Springer wirken gefährlich im gespenstischen Halbdunkel. Als wäre sie diesem verschlingenden Meer gerade noch einmal entkommen sieht man die Tänzerin Verónica Segovia als Gelsomina mit weit aufgerissenem Mund. Angstvoll und starr, mit in unbestimmte Ferne blickenden Augen, wie gefesselt ist sie an diesen Ort in der so beeindruckenden wie verstörenden Geste eines stummen Schreis; als wäre sie eine Seelenverwandte jener Frauen auf den Gemälden des Lebensfrieses des Malers Edvard Munch.
Gelsomina, diese naive junge Frau, ist auch die Hauptperson in Federico Fellinis Film „La Strada“ aus dem Jahr 1954, in dem die Filmmusik von Nino Rota immer etwas mehr von den unterdrückten Emotionen dieser einsamen Kindfrau vernehmen lässt. In Marco Goeckes choreografischer Inszenierung von einer Auswahl an Motiven und Themen dieses Films (zur von Nino Rota zur Orchestersuite bearbeiteten Filmmusik für großes Orchester) gibt es gleich zu Beginn eine Schlüsselszene. Gelsomina fühlt sich angezogen von der Musik, sie kommt an die Rampe, winkt dem Dirigenten Michael Brandstätter zu und offenbart ihm ihr Geheimnis. Ein Kinderinstrument trägt sie verborgen bei sich, und sie entlockt dieser goldenen Tröte ungelenke Töne. Erst gegen Ende wird sie noch einmal liebevoll dieses Instrument in den Händen halten, Töne kann sie ihm nicht mehr entlocken, ihr Leben auf der Straße an einem schwingenden Kornfeld, in das sich die Meereswogen verwandelt haben, verlischt stumm und unbemerkt.
Wie im Film wird auch in Goeckes Ballett das Kind verkauft an den Jahrmarkts- und Zirkusartisten Zampanó. Ein einsamer, heimatloser Kraftprotz, der zwar eiserne Ketten sprengen kann aber nicht in der Lage ist, dem eisig erstarrten Gefängnis seiner verhärteten Seele zu entkommen. Gelsomina muss ertragen, wie er sich mit Huren vergnügt, wird von ihm gedemütigt und sieht ihm doch alles nach, mit von zugeneigter Zärtlichkeit grundierten, einsamen Blicken.
Mit Tänzer Özkan Ayik hat Marco Goecke einen Darsteller gefunden, dem es beeindruckend gelingt sich im existenziellen Kampf auf jener endlosen Straße des Unglücks mit Bewegungen wie Hilfeschreie in die Einsamkeit zu tanzen. Als tobten in seinem Inneren schmerzende Widersprüche, brechen die Bewegungen der Arme explosiv in dem für Marco Goecke typischen Bewegungsstil aus dem Körper heraus. Da fährt ein Arm in die Höhe, die Hand knickt ab, flattert wie wild in hilfloser Gestik über dem Kopf, um dann sofort von der anderen Hand wieder herunter gerissen zu werden; als hätte dieser Körper sein gesamtes Muskelwerk zu einem einzigen Kontrollsystem verkommen lassen. Selbst den erotischen Szenen fehlt es an Momenten der Freiheit, wenn sie in geradezu symmetrischen Formen sich vollziehen müssen.
Und doch immer wieder kleine Lichtblicke auf diesen dunklen Straßen in einer Zirkuswelt mit ihren kleinen, lichtvollen Visionen. So eine Figur der Visionen ist für Gelsomina der von Alessio Attansio getanzte Clown mit der roten Nase. Als bräche Licht auf für sie am Horizont der Einsamkeit, ist die Begegnung für sie mit dem lebensfrohen Seiltänzer Matto. Für Javier Ubell in dieser Rolle durchbricht auch Marco Goecke immer wieder für Momente seinen speziellen Stil des Tanzes. Diesem Tänzer legt er nicht das Korsett der seelischen Gefangenschaft an, ihm schenkt er die Momente lichter, tänzerischer Leichtigkeit und darin entdeckt Gelsomina eben jene Visionen, die sie bisher nicht kannte. Das sind die Momente der Verzauberung in Goeckes Choreografie. Auch Verónica Segovia kann für Momente die Starrheit ihrer Mimik durchbrechen, wenn sie sich in bis dahin bei ihr nicht zugelassener Sensibilität in Bewegungen des Tanzes versuchen darf, die für sie bisher fremd schienen und es doch nicht wirklich sind, wie man jetzt berührend und berührt wahrnimmt.
Was für Gelsomina und Matto Momente der Freiheit sind, ist für Zampanó unerträglich. Die Ambivalenzen seiner Beziehung zu Gelsomina, seine Verkettungen in den wie zum Schutz angelegten Korsagen der Einsamkeit sind in Gefahr. Der Seiltänzer wird zum Feind und muss beseitigt werden. Ein sinnloses Opfer und erst die Trennung von Gelsomina und die Nachricht von ihrem einsamen Tod auf der Straße lassen so etwas wie Emotionen bei Zampanó aufkommen.
Marco Goeckes Bewegungen der Unentrinnbarkeit lassen in dieser Choreografie mit den Tänzerinnen und Tänzern des Balletts am Staatstheater am Gärtnerplatz eine so beeindruckende wie zutiefst berührende Abfolge von Assoziationen anhand von Motiven des Films „La Strada“ entstehen. Eine getanzte Nacherzählung des Films gibt es nicht. Allein der Titel – eben wie der Film „La Strada“ – dazu die Musik von Nino Rota und nicht zuletzt die Beschreibung der Handlung im Programmheft könnten aber eine solche Erwartung wecken. Wer sich von dieser Erwartung nicht frei machen kann dürfte es nicht so leicht haben mit dieser Choreografie. Vielleicht sogar darauf warten, dass der Seiltänzer Matto, wie im Film, Gelsomina das Trompetenspiel beibringt und jenes melancholische Motiv, welches ja auch in der Orchesterfassung der Filmmusik immer leitmotivisch anklingt, zum Lied der Straße, eben „La Strada“, wird.
Das alles kann natürlich nicht in Abrede stellen, dass es Marco Goecke, wie schon zuvor mit „Nijinsky“, auch mit dieser Kreation gelungen ist Maßstäbe für das zeitgenössische Handlungsballett zu setzen. Und weil gerade die Optik seiner Choreografie des Unglücks der einsamen Menschen auch getragen ist von zärtlicher Zuneigung zu ihnen, von sensiblen Zwischentönen der Bewegungen und auch von beinahe humorvoll anmutenden, musikalisierten Sprachtänzen mit italienischen Worten und Begriffen, hätte auch der musikalischen Wiedergabe durch das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz unter der Leitung von Michael Brandstätter noch eine höhere Sensibilität bei der Herausarbeitung auch der leisen Zwischentöne gut getan.
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