„Le Grand Sot“ von Marion Motin, Tanz: Ensemble

Zurück in die Zukunft

Letzter Premierenabend beim Bayerischen Staatsballett dieser Spielzeit mit „Sphären.01/Goecke“

Ein Glanzlicht ist zum Abschluss dieser Spielzeit mit dem vierteiligen Tanzabend „Sphären.01/Goecke“ gelungen. Er brachte das ausverkaufte Prinzregententheater zum Toben und das Premierenpublikum in Partystimmung.

München, 26/06/2023

Als „Sieger“ des Abends gingen direkt die Tänzer*innen des Bayerischen Junior Balletts München mit dem furiosen Eingangsstück „All Long Dem Day“ in der Choreografie des Kurators des Programms Marco Goecke hervor. Bereits nach wenigen Minuten wurde klar, dieser Premierenauftakt wird schwer zu toppen sein, und man muss bei solch geballtem tänzerischen Talent nicht erst in die Zukunft blicken, da der Tanz der Gegenwart völlig ausreicht, um ein zeitgenössisches Publikum in Begeisterungsstürme zu versetzen. Es sollte daher als echte Errungenschaft des amtierenden Direktors Laurent Hilaire gewertet werden, dass die Juniorkompanie mit der diesjährigen Edition von „Sphären.01/Goecke“ zum ersten Mal mit einem eigenen Beitrag innerhalb eines Tanzabends des Bayerischen Staatsballetts präsentiert worden war – auf einen solchen wird man künftig kaum mehr verzichten wollen.

Zum groovig-rhythmischen Song „Sinnerman“ der Jazzlegende Nina Simone lässt Goecke die jungen Tänzer*innen im zum Markenzeichen des Choreografen gewordenen Black-White-Look – nackte Oberkörper bei den Männern, schwarze Beintrikots auch bei den Frauen – gleich eines Schwalben-Schwarms die Bühne erobern. Zwölf Tänzer*innen, die sich gemeinsam wie ein einziger Flügelschlag bewegen und mit hohen, geworfenen Attituden, gestochen scharfen Développé-Kicks in Forsythe-Manier wie auch mit typisch abgespreizten Ellenbogen mit mechanisch-akkuraten Bewegungen, die in ihrer Präzision an den Sekundenzeiger eines Uhrwerks erinnern, überzeugen. Dabei haftet diesem Goecke, der ursprünglich 2015 für Schüler*innen der Staatlichen Ballettschule Berlin choreografiert worden war, nichts Düster-Morbides an, sondern „All Long Dem Day“ gibt sich frisch wie ein neuer Frühlingstag. „Don’t you know I need you“, fragt Simones heisere Stimme vom Band, die auch so unter die Haut geht – Goecke antwortet hierauf mit kühlen Umarmungen seiner Tänzer*innen, die wie durch Zwangsjacken stattfinden, womit keine emotionale Nähe zwischen ihnen zugelassen und der Fokus nur verstärkt auf virtuose Bewegung in Zeit und Raum gelenkt wird. Noch zwei, drei weitere blitzschnelle Cambrés, Stakkato-Kopfdrehungen, Blickwechsel, und schon ist der virtuose Vogelschwarm weitergezogen und die dunkle Bühne furios leergefegt. Wenn Tanz so voller Wucht und Dynamik daherkommt, wie hier, muss man sich um die Zukunft des Tanzes keine Sorgen machen. Diejenigen Junioren, die mit „Sphären.01/Goecke“ ihre Abschlussvorstellung gaben und Engagements an Theatern weltweit antreten, wird das Münchner Tanzpublikum jedoch zweifelsohne vermissen.

 

Virtuoses Schattenspiel

 

Von völlig anderer Stimmung zeugt das zweite Stück des Abends „L’Éternité Immobile“ – Die unbewegliche Ewigkeit – des vom Ballett der Pariser Oper kommenden Choreografen Nicolas Paul. Dieser hat für acht Tänzer*innen des Bayerischen Staatsballetts eine Eigenkreation geschaffen, bei der sich tiefe Melancholie nicht nur musikalisch breitmacht: Der zunächst dunkle Raum wird von einem einzelnen, in der Größe her beweglichen weißen Lichtstreifen definiert. Sieben der Tänzer*innen bewegen sich wie in Zeitlupe rückwärts, während eine einzelne Tänzerin (Elvina Ibraimova) in ihrem Solo gefangen wirkt – gleich eines eigenen Mikrokosmos. Ein Spiel mit der Vergangenheit und Gegenwart entspinnt sich, was Hauptthema dieses vermeintlich abstrakten Stücks zu sein scheint.

Die Tänzerinnen mit strengem Dutt und Gretchen-Flechtfrisuren versehen, und die Tänzer*innen allesamt in grobe Hosen und Hemden gesteckt, haben viel von einer (Nach-)kriegs-Ästhetik, wirken wie Heimkehrer, die von der traumatischen Vergangenheit auch in der Gegenwart heimgeholt werden: fragil-elegante Wesen aus einer anderen Zeit, auf deren zarten Schultern schwere Last liegt. Eine Tänzerin erblickt den überlebensgroßen Schatten ihres womöglich verschollenen Geliebten, verzweifelt pocht sie gegen die Rückwand der Bühne. Zur schmelzenden Stimme eines Countertenors in John Taveners Liedkomposition „The Hidden Face“ entspinnen sich schwelgend-schöne Duette: Körper werden in virtuosem Schattenspiel vervielfältigt, verkleinert und vergrößert. Erst nach einer Weile begreift der Zuschauer, dass es sich bei manch vermeintlichem Schatten gar nicht um einen solchen handelt, etwa wenn sich dieser entkleidet und als nackte Hülle von einer im Bühnenvorderraum befindlichen Tänzerin (Madeleine Dowdney) verfolgt wird – Das verborgene Gesicht. Viele Geschichten werden simultan erzählt: Ein Paar (Bianca Teixera und Matteo Dilaghi) küsst sich innig, während Severin Brunhuber in einem unsichtbaren Schützengraben erschossen wird oder Ibraimova mit unendlich biegsamem Oberkörper Cambrés vollführt, sich selbst gleichsam zusammenfaltet – sie bleibt für sich allein, bis zum Schluss. Intensive Bodenarbeit zeichnet die Choreografie aus, die sich insgesamt haarscharf an der Grenze zum zu viel des Pathos bewegt. Ein Stück von fast zu einseitiger Schönheit und Schmelz im recht konventionellen Bewegungsvokabular; die durchweg großartigen Tänzer*innen werden für ihre Leistung jedoch am Ende des Stücks zu Recht mit starkem Beifall belohnt. Ein Tanz der Erinnerung, des Gestern und der Vergangenheit, dem ein wenig mehr Gegenwart jedoch nicht geschadet hätte.

 

Unbekanntes Flugobjekt

 

Beim dritten Stück des Abends – und zugleich der zweiten Uraufführung – ist man hingegen unmittelbar in einer weitentfernten Zukunft angelangt. Geradewegs futuristisch geben sich hier Kostüme und eine dubiose Metall-Konstruktion, die über den Köpfen der Tänzer*innen bedrohlich schwebt und sich erst auf den zweiten Blick als eine überdimensionale Dornenkrone entpuppt. Der einzelne Tänzer auf linker Bühnenseite (Shale Wagman) mutet wie ein Astronaut bei der Mondlandung an und befindet sich diametral zu einer zunächst monoton-statisch wirkenden Tänzergruppe auf rechter Seite.

Am fraglos stärksten ist in „The Habit“ auch die Handschrift des Kurators Marco Goecke in der Neukreation seines ehemaligen Kompanie-Schützlings aus Hannover, Fran Diaz, zu erkennen: In raubtierhaften Bewegungen erobert Wagman in virtuosem Solo die Bühne für sich, überzeugt mit kniffligen Jeté-Sprüngen, wirft und verausgabt seinen eigenen Körper bis ins letzte Extrem. Die Kopfbewegungen – die wie losgeschraubt vom Hals wirken –, blitzschnellen Drehungen und Stakkato-Bewegungen der gekurbelten Arme sind als deutliche Reminiszenz an Altmeister Goecke erkennbar.

Die Gruppe, die an eine kleine Kolonie von Insekten erinnert, nimmt nach Wagmans furiosem Auftakt deutlich an Fahrt auf, deutet zuweilen computergesteuertes Herzflimmern an, ein Pumpen von Blut in den eigenen blutleeren Körper. Die größte Stärke dieses durchaus psychedelisch anmutenden Stücks sind vor allem die zahlreichen Soli, die sich immer wieder aus dem fremdgesteuert wirkenden Ensemble herausschälen – neben Wagman und António Casalino überzeugen in diesem Stück gerade die Tänzerinnen wie Marta Navarrette Villalba, Phoebe Schembri oder Carollina Bastos, die hier die Gelegenheit erhalten, ihr ganzes Können auch individuell und solistisch zu zeigen und abermals beweisen, welch starke Tänzer das Bayerische Staatsballett nicht nur unter seinen Solisten hat.

Allerdings bleibt die Frage an den Choreografen bestehen, was es eigentlich mit dem Dornenkronen-Konstrukt auf sich hat, das im letzten Drittel des Stücks spektakulär mit rotem Faden – ‚Blut‘ – besprüht wird. Doch auch dieses Geheimnis wird nicht gelüftet werden, denn, wie es in einer Aussage des Choreografen im Programmheft heißt: „Geheimnisse sind aus gutem Grund Geheimnisse ...“.

 

A Chorus Line

 

Es war eine gute Entscheidung „Le Grand Sot“ – der einzig weibliche Beitrag – der in Frankreich gehypten Choreografin Marion Motin an den Schluss des Abends zu setzen, denn mit diesem Ensemblestück zu Ravels ikonischen Boléro-Klängen wartete dann noch ein wirkliches Knallbonbon auf das Publikum.

Doch was für eine Mischung kam hier zusammen: Wer hier auch nur am Entferntesten an Maurice Béjarts berühmte Tanzsolo-Adaption für Jorge Donne denkt – heute längst Aushängeschild des Stuttgarter Startänzers Friedemann Vogel – wird eines Besseren belehrt. Nicht umsonst nennt sich dieses Stück übersetzt „Der große Trottel“ und will definitiv nicht zu ernst genommen werden. Immer wieder setzt kollektives Gelächter beim Publikum ein, wenn die Tänzer*innen – bekleidet mit Taucherbrille und Sportswear in Chorus-Line-Ästhetik – nach anfänglicher Body-Percussion als Begrüßungsritual die Bühnenmitte für sich einnehmen und in nahezu hypnotischer Weise Hüftschwingungen vollführen. Wobei man sich unter den zwölf Tänzer*innen unbedingt eine höhere Anzahl von Männern gewünscht hätte, für eine gerechtere Geschlechterverteilung der zwölf unaufhörlich schwingenden Hinterteile.

Choreografisch bedient sich die ursprünglich aus der Hip Hop-Kultur stammende Französin einfacher Bewegungsmuster und sich immer wiederholender Motionen mit Anleihen aus dem Schwimmer- und Kampfsport, Voguing wie eben auch der Hip Hop-Kultur und sind dank der frequentiert eingesetzten Kanons durchaus sehr effektvoll. Es handelt sich bei „Le Grand Sot“ um ein reines Ensemble-Stück, das in seiner scheinbaren Simplizität jedoch nicht unterschätzt werden sollte, wovon einerseits die zwölf immer stärker schwitzenden und glänzenden Leiber unmissverständlich zeugen, aber auch, indem anderseits gnadenlos jeder Unisono-Moment offenbart wird, an dem das Ensemble nicht komplett zusammen ist.

Allerdings fallen solche seltenen Augenblicke nicht ins Gewicht und dieser Korkenknall bringt das begeisterte Münchner Tanzpublikum zum Abschluss abermals zum Toben. Wie gut also, dass „Le Grand Sot“ im Rahmen der Produktion Blickwechsel beim Septemberfest (23./24. September 2023) abermals zu sehen sein wird. Denn dieser finale Premierenabend, der nichts weniger als einen Sommerhit der Münchner Ballettszene landete, macht jetzt schon neugierig auf die nächste Spielzeit und Lust auf mehr. Vor allem aber darf man schon jetzt gespannt sein, auf die nächste Edition „Sphären.02/Preljocaj“ im Sommer 2024 – die Messlatte für den nächsten Tanzabend aus dieser Reihe ist zweifellos hochgelegt.

 

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