„Antonín“ von Michael Keegan-Dolan. Tanz: Ensemble.

„Antonín“ von Michael Keegan-Dolan. Tanz: Ensemble.

Mit „Jean und Antonín“ in die Ewigkeit

Das Staatstheater am Gärtnerplatz feiert in der Reithalle eine denkwürdige Premiere mit zwei Choreografien von Michael Keegan-Dolan und Karl Alfred Schreiner

„Jean“ würde alleine keinen Abend tragen, „Antonín“ sehr wohl. Beide zusammen bilden ein denkwürdiges Duo für existentielle Fragstellungen.

München, 02/04/2017

Eine Beerdigung außer Rand und Band, dazu ein ruhiges Stück über die Ewigkeit – das ist „Jean und Antonín“, der neue Ballettabend des Gärtnerplatztheaters. Wegen Renovierung weicht die Inszenierung in die Reithalle an der Infanteriestraße aus, was ihr gar nicht schlecht steht. Die Besucher sitzen hier auf Rängen, und so gewinnt das Vorgeführte an dramatischer Kraft, wie in einem Amphitheater. Auch die Akustik ist hervorragend: Das Orchester des Gärtnerplatztheaters agiert nicht aus einem Graben heraus, sondern spielt auf einer Bühne hinter dem Tanzboden. Es ist den Tänzern ganz nahe. Eine schöne Situation.

Dvořáks Sinfonie Nr. 8 in G-Dur als Beerdigung zu inszenieren, ist schon eine skurrile Idee. Doch Choreograf Michael Keegan-Dolan hat alles richtig gemacht. Sein „Antonín“ ist ein echter Coup!

Der Anfang ist rätselhaft: Zunächst beäugen sich die Hinterbliebenen, indem sie hektisch umeinander herum und um den Aufgebahrten laufen, dabei ruckartig stoppen. Dann setzen sie sich auch noch Partyhütchen auf und hauen mit ihren Schuhen auf den Boden. Provokationstheater? Zu dem Zeitpunkt möchte der Zuschauer noch mit den Beerdigungsgästen im Boden versinken, in Erwartung peinlicher Situationen. Doch das Blatt wendet sich, als im Hintergrund der Vorhang vor dem verdeckten Orchester fällt. Künstliches Gehabe ablegen, die Masken fallen lassen, aufrichtig trauern und sich mit dem Verstorbenen wie den anderen Weinenden beschäftigen, darum geht es in Wirklichkeit.

Einer nach dem anderen lassen die Trauernden los. Sie nehmen sich Zeit – seien es die Damen für einen hin und her wogenden Pas de six, sei es ein einzelner, kleiner Gast mit einem gefühlvollen, viel zu fließenden, aber ehrlichen Solo. Ein Dritter führt einen Veitstanz auf dem Sargdeckel auf, und das ist in Ordnung. Es ist Emotion, keine Blasphemie. Keegan-Dolans Bewegungssprache kann zwischen solchen Feinheiten unterscheiden. Seine Tänzer variieren die typischen erhobenen Arme und die verzweifelt nach unten hängenden Köpfe des Schmerzvokabulars so raumgreifend, dass sie zur gemeinsamen Sprache werden und letztlich erhebend wirken. Dadurch gelingt den Verzweifelten auch der Durchbruch: Ein paar von ihnen stützen die Frau des Toten, sodass sie ihr Kostüm ablegt und ihren Liebsten endlich zum Abschied küsst. Ob das in Dessous geschehen muss, könnte man zur Debatte stellen.

Hier, wie an anderen Stellen, schlägt das Stück etwas über die Stränge, beispielsweise auch, als der Sarg herumgewirbelt wird wie ein Karussell. Andererseits erfordern besondere Situationen besondere Mittel. Die westliche Trauerkultur befindet sich am Tiefpunkt und jede Inspiration taugt im Kampf gegen das hastige Abholen und Zuschaufeln, das viele aus Angst und Hilflosigkeit praktizieren. Die Gesellschaft muss lernen, wieder richtig Abschied zu nehmen. Und solange das der Religion nicht gelingt, darf das gerne auch der Tanz tun.

Keegan-Dolans Toter steht zuletzt auf, teilt eine letzte Zigarette mit der Freundin und geht über die Zuschauerränge in die andere Welt. Er findet Ruhe, weil sein Tod zelebriert wird. Wenn Tanztheater sich mit so etwas Wesentlichem beschäftigt, ist das ein Verdienst.

Karl Alfred Schreiners „Jean“ zur Sinfonie Nr. 7 in C-Dur von Jean Sibelius bildet dazu ein stilles wie undurchschaubares Gegenprogramm. In einer endlosen, weißen Urlandschaft erheben sich Gruppen von Tänzern, die sich ununterbrochen ineinander verwinden. Wogende Bewegungen wecken Bilder vom Spiel der Gezeiten, die Darsteller erheben sich wie Schaumkronen in ihren bezaubernden blau-beigfarbenen Korallenkostümen von Bregje van Balen. Im Hintergrund brennt eine mannshohe Kerze. Doch was symbolisiert sie? Es gibt wenige Höhen und Tiefen in dieser Reminiszenz an die Ewigkeit, sie kommt und geht wie das Meer. Vielleicht ist „Jean“ ja nur ein kurzer Blick auf ein Spiel, das für alle Zeiten andauert, irgendwo im Universum.

„Jean“ würde alleine keinen Abend tragen, „Antonín“ sehr wohl. Beide zusammen bilden sie ein denkwürdiges Duo für existentielle Fragstellungen. Die Zeit vergeht wie im Flug.

 

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