Dem Tod immer eine bewegte Geschichte voraus
Interview und Probeneinblick zu Karl Alfred Schreiners Balletturaufführung „Peer Gynt“ für das Staatstheater am Gärtnerplatz
Ballettpremiere am Münchner Gärtnerplatz – Karl Alfred Schreiner adaptiert „Peer Gynt“
Dass der choreografierende Direktor des Balletts des Staatstheaters am Gärtnerplatz ein Faible für abendfüllende Handlungsballette hat, hat Karl Alfred Schreiner mit Werken wie „Giselle“, „Undine – Ein Traumballett“ oder nun seiner aktuellen Version von „Peer Gynt“ längst bewiesen. Allerdings ist es ein wahrer Koloss norwegischer Kulturgeschichte, an welchen sich dieser mit seiner ersten Spielzeitpremiere herangewagt hat – doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt!
Gleich zwei Meisterstreiche der norwegischen Nationalkünstler Henrik Ibsen und Edvard Grieg beinhaltete das gleichnamige Schauspiel von 1876 und inspirierte bereits in der Vergangenheit zahlreiche Choreografen zu Tanzadaptionen, etwa John Neumeier, Edward Clug oder nun Karl Alfred Schreiner. Neuland betrat Letzterer mit seiner erstmaligen Verknüpfung von Tanz, Ton und Wort, indem er sich dazu entschieden hat, gewichtige Textpassagen aus Ibsens berühmtem Bühnenstück in die Choreografie einfließen zu lassen. Für die faustische Figur des Knopfgießers hat sich Schreiner einen superben Mann an die Seite geholt, den erst vergangene Spielzeit zum Kammerschauspieler gekürten Erwin Windegger, der dank fulminanter Bühnenpräsenz und beeindruckender Sprachvirtuosität einen größtmöglichen Gewinn für die Ballettproduktion darstellt.
Ich tanze, also bin ich
Als roter Faden führt dieser verkappte Sensenmann durch den Abend und schlägt eine zentrale Brücke von Ibsens hochintellektuellem Dramentext zu Griegs tiefromantischer Musik als Herzstück der Choreografie. Sein tänzerischer Counterpart ist der Titelheld des Stücks (darstellerisch eindringlich und bewegungstechnisch wunderbar raumfüllend: Alexander Hille), dem der Knopfgießer gleich des Komturs aus „Don Giovanni“ immer wieder ins Gewissen ruft: „Peer, du lügst“. Kein Bösewicht ist dieser Peer Gynt – von einem Heiligenstatus ist er aber ebenso weitentfernt –, sein Dilemma jedoch ist seine Durchschnittlichkeit. Ein „Massenbrei“ sei er, eine „Zwiebel ohne Kern“, weshalb der Knopfgießer an die notwendige Einzigartigkeit des Individuums appelliert. Tiefenpsychologische Sinnsuche wird hier betrieben, die Suche nach der eigenen Identität, nach dem eigenen Sein. „Umschmelzen“ will der Knopfgießer den Einheits-Peer, den er sich als „blitzenden Knopf an der Weste der Welt“ gewünscht hätte, der jedoch auf nichts anderes in seinem Leben zurückblicken kann als auf Hinlänglichkeit. Somit qualifiziert sich Peer Gynt weder für den Himmel noch für die Hölle. Was bleibt dem Lebensstreicher da anderes übrig, als die Welt zu sehen, nicht wie sie ist, aber wie er sie sich erträumt, und dabei zu ersticken an der Übermacht seiner Fantasie, an dem Zurückgeworfen sein auf sich selbst?
Nordische Utopien
Gerade aber das Reich der Fantasie ist seit jeher ureigenstes Metier des Tanzes – eine Fülle an abenteuerlichen Welten lässt Schreiner gemeinsam mit seinem versierten Leitungsteam entstehen: Schroffe Bergwelten, mystische Wälder, nebelschwangere Fjorde – Reich des Bergkönigs – begeistern als grandiose Nonstop-Projektion auf halbförmiger Rückwand. (Bühne: Heiko Pfützner; Video: Christian Gasteiger und Raphael Kurig; Licht: Peter Hörtner). Gemeinsam mit reduziert nordisch-folkloristischen Kostümen (Thomas Kaiser) unbestimmter Moderne und der Paarung zeitgenössischer Bewegungssprache mit Folkloretänzen und pointierter Gestik werden Seinswelten erschaffen, die den „Norwegischen Feenmärchen und Volkssagen“ (1845-1848) geradewegs entsprungen zu sein scheinen, auf denen einst Ibsens dramatisches Gedicht basierte.
Pseudodörfliche Idylle wird hier von Karl Alfred Schreiner kenntlich gemacht – ausgeklammert und verstoßen wird, was nicht in die beengte Sicht der eingefleischten Dorfgemeinde passt. Hat sich der Knopfgießer hier also vielleicht in Peer als seinem Sorgenkind getäuscht und ist dieser weniger „Einheitsbrei“ als fälschlicher Weise angenommen? Immer wieder muss und will sich Peer vor anderen beweisen: er, der kleiner ist als die anderen, dafür aber gewitzt, neugierig und natürlich voll ungestümer Fantasie. Ein Mädchen nimmt er sich, das einem anderen gehört – hat er sie für sich gewonnen, wird er ihrer jedoch schnell überdrüssig. Die Fantasie reicht doch für so viel mehr als für Begrenztheit in Raum und Zeit.
... und ewig lockt das Weib
Überzeugt „Peer Gynt“ vor allem als Männerstück mit ausnahmslos intensiven Interpreten der verschiedenen Alter Egos des Peer Gynts auf Wanderschaft, so stellen die einzigen zwei Konstanten in dessen Dasein zwei weibliche Gestalten dar: die Frau, die ihn gebar (Emily Yetta Wohl) und Solveig, als die Frau an seiner Seite (Marta Jaén Garcia), die ebenso viele Facetten hat wie ihr Geliebter, vielleicht sogar noch mehr. Neben dem wunderbar aufeinander eingespielten Tanzensemble sorgen vor allem diese beiden starken weiblichen Figuren der Mutter Åse und Solveig für übersinnlich poetische beziehungsweise überaus sinnlich-flirrende Momente und verleihen dem Stück nötige emotionale Tiefe und Kanten.
Schreiners choreografisch größte Stärke zeigt sich schließlich in seinem überfeinen Gespür für Tanz in der Zweisamkeit, indem sich ein zärtlich fließendes oder leidenschaftlich knisterndes Pas de deux nach dem anderen durch den Abend zieht, sei es ein anrührendes Duett des liebenden Sohnes Peer mit seiner sterbenden Mutter oder sei es ein rauschhafter Liebesreigen mit Solveig. Diese nimmt zuletzt den Platz von Åse ein und lässt Peer an der finalen Wegscheide seines Lebens erkennen, dass es genau die bedingungslose Liebe dieser beiden Frauen für ihn gewesen war, die ihn einzigartig machten – sie waren und sind das Einzigartige in seinem Leben, denn er war einzig für sie.
Peer Gynt ist schließlich gewonnen für die Liebe, verloren für den Teufel – und ganz sicher ist dieser neue Ballettabend ein Gewinn für das Ballett des Gärtnerplatz Theaters, in dem sich dieser Repertoire-Neuzugang nicht zuletzt dank seiner traumschönen Musik Edvard Griegs und der jungen zeitgenössischen Komponistin María Huld Markan Sigfúsdóttir (Dirigat: Michael Brandstätter) als Gesamtkunstwerk empfiehlt, das zum Träumen und Schwelgen einlädt – vom Norden, von Norwegen und natürlich von der Höhle des Bergkönigs ... oder doch von dessen Hölle? Wer weiß!
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