Von der Hölle des Bergkönigs
Ballettpremiere am Münchner Gärtnerplatz – Karl Alfred Schreiner adaptiert „Peer Gynt“
Interview und Probeneinblick zu Karl Alfred Schreiners Balletturaufführung „Peer Gynt“ für das Staatstheater am Gärtnerplatz
Die Bühne wird von einem weißen Rundhorizont im Arbeitslicht gesäumt. Davor flacken Tänzerinnen und Tänzer in unförmig-grauen Sackkissen. Es ist ein kurzer Entspannungsmoment nach der konzentrierten Anstrengung eines eben erfolgten Szenendurchlaufs. Die Blicke der Gruppe sind auf Karl Alfred Schreiner gerichtet, dessen Ballett „Peer Gynt“ zwei Tage vor der Premiere jetzt seinen letzten Schliff bekommt.
Im Interview bekennt der choreografierende Ballettchef: „Geschichten haben mich immer schon gereizt. Ich habe zwar versucht, mich davon loszueisen – aber es packt mich immer wieder. Filme, Romane, Erzählungen sind etwas, das mich im tiefsten Inneren beschäftigt.“ Zuletzt hatte Schreiner im November 2022 seine eigenwillige Adaption des Klassikers „Giselle“ vorgestellt. Dieser Abendfüller wird ab nächsten Februar wieder zu sehen sein.
„Thematisch interessieren mich komplexe Figuren“, erläutert Schreiner. „Charaktere, die eine emotionale Breite haben – wo von Lachen bis Weinen alles drin ist –, finde ich für den Tanz spannend. Giselle und Peer Gynt treffen sich irgendwie im Wahnsinn und in jenem Augenblick, wo man sich seine Realität zurechtbiegen muss. Der Unterschied ist, dass Giselle mit der Realität nicht zurechtkommt. Peer dagegen legt sich alles so zurecht, dass es ihm passt. Er bastelt sich seine eigene Wahrheit. Das Leben nimmt er nicht als das an, was es ist, und reimt sich einfach etwas anderes zusammen. Solche Figuren faszinieren mich. Und ich merke, das Kreationen mit konkreten Inhalten auch bei meinen Kolleginnen und Kollegen im Ballettsaal etwas auslösen.“
Rollen gab es dieses Mal weit mehr zu verteilen als bei „Giselle“. „Ich habe meinem Peer Gynt, der sich durch das ganze Stück zieht, in jeder Lebensperiode zusätzlich ein Alter Ego zugeordnet. Das ermöglicht mir, die Ebene der Selbstreflexion einzubauen, und die Frage ‚Wer bist Du‘ in einem Duett von Peer mit sich selbst herauszuarbeiten. Peer interagiert physisch mit seinem Kinder- und seinem Erwachsenen-Ich. Nur beim Tod der Mutter habe ich ihm kein Alter Ego zugestanden. Diese Szene muss er ‚in erster Person‘ alleine durchleben.“
Dafür, was „Du selbst zu sein“ bedeutet, glaubt Schreiner eine gute Lösung gefunden zu haben. „Man muss irgendwann auch mal erwachsen werden. Abschied nehmen von einem Selbst, das man mal war. Peer ist da anders als Peter Pan, der nie erwachsen werden will. Er hat das Kind-Sein quasi übersprungen und fühlt sich von Anfang an erwachsen, meint, ihm gehöre die Welt und er könne tun und lassen, was er will. Peer legt sich gleich mit den Großen an. Landläufig würde man jemanden wie ihn für verrückt erklären.“
Dass der erneute Streik der TV-L-Beschäftigten an den Bayerischen Staatstheatern in München die Probenplanung mächtig durcheinandergewirbelt hat, daraus macht Schreiner keinen Hehl: „Ich finde die Möglichkeit zu streiken gut und richtig, aber gerade in der Endprobenphase sind Ausfälle bei der Technik, im Auf- und Abbau und bei den Beleuchtungszeiten für uns nicht optimal. Wir verlieren wertvolle Zeit. Um den Premierentermin halten zu können, haben wir gemeinsam mit der Intendanz entschieden, die Repertoirevorstellung der Oper „La Cenerentola“ am 22.11. zu opfern.“ Beide „Peer Gynt“-Besetzungen können nun parallel mit Schreiner und seinem Team in Heiko Pfützners Ausstattung proben.
Darsteller Erwin Windegger betritt die Bühne. Seit sieben Jahren ist er festes Ensemblemitglied des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Letztes Jahr wurde er zum „Bayerischen Kammerschauspieler“ ernannt. An der Textfassung hat er maßgeblich mitgearbeitet. Man hört ihn gerade noch „Die Natur ist witzig“ sagen, dann beginnt es akustisch zu donnern und zu gewittern. Kissen, die zuvor wie Felsen in einer Ödnis herumlagen, werden von Tänzern in Regenmänteln zu einem Haufen aufgetürmt. Anschließend wird das Material, das bei jeder Gewichtsverlagerung nachgibt, bestiegen. Ineinander verhakt kippt die Masse schwarzer Körper wie von Wellen gepeitscht mal hierhin, mal dorthin. Dazu erklingt Edvard Griegs imposante Sturm-Musik zu „Peer Gynts Heimkehr“. Das imaginäre Schiff aus Kissen zerfällt in drei Inseln. Während Schreiner bei der Probe um diese herumläuft, ruft er immer wieder einzelnen Tänzern etwas zu.
„‚Peer Gynt‘ ist ein Stück, das mich immer schon gereizt hat. Mit der Kompanie, die ich nun hier habe, sind wir in der Lage, diese Story, die ja ein richtiger Brocken ist, zu erzählen. Dass ich mit dem Text – beziehungsweise Teilen von Henrik Ibsens Dramentext und einem Schauspieler arbeiten wollte, war mir von vornherein klar. Unser initialer Kunstgriff bestand darin, die Szene des Knopfgießers aus dem fünften Akt an den Anfang zu stellen. Erwin Windegger betritt die Bühne und stellt Peer die Sinnfrage. Das wiederum motiviert Peer und bringt ihn in Bewegung.“
Aus diesem Fabulieren heraus sei die Lust entstanden, die verschiedenen Szenen zu choreografieren – meint Schreiner. „Letzen Endes haben wir uns auf fünf große Komplexe geeinigt: die Kindheitsgeschichte im Dorf mit Ingrid und mit Aslag – denn was man in der Kindheit erlebt, prägt ja oft das ganze Leben. Das animalische Bild mit den Trollen, die bei mir eine Art Puppen beziehungsweise Vogelscheuchen sind. Peer agiert hier sehr triebgesteuert. Im Zentrum des Stücks steht Âses Tod – ein unglaublich schöner, poetischer Moment des Abschiednehmens für den wir musikalisch „Oceans“ der zeitgenössischen isländischen Komponistin María Huld Markan Sigfúsdóttir verwenden. Danach folgen wir Peer an die marokkanische Küste, zu jenen aufgeblasenen Männern, von denen sich einer größer als der andere fühlt, und zu Anitra. Sie ist bei mir eine starke Frau, die in allen einen erotischen Wunschtraum auslöst. Den Sturm und Peers Rückkehr nach Hause zu Solveig, die in meiner Version übrigens auch die Partie der Anitra tanzt, haben wir eben auf der Bühne ausprobiert.“
„Peer Gynt“ ist die erste Produktion, in der Karl Alfred Schreiner Worte und Sprache so konkret in ein Tanzstück einbindet. „Wir sind den Text relativ physisch und emotional angegangen – ohne choreografische Vorab-Muster. Erwin Windegger ist von Beginn an mit auf der Bühne.“ Und schmunzelnd bringt Schreiner die Herausforderung jeder „Peer Gynt“-Version abschließend auf den Punkt: „Wenn mir gelingt, was ich zu erzählen versuche, dann wird Windegger zum integralen Bestandteil des Stücks und weiß irgendwann selber nicht mehr ganz, wie ihm geschieht.“
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