Hemmungslose Lobeshymne
Sahra Huby wird mit dem Förderpreis Tanz der Landeshauptstadt München ausgezeichnet
Bereits zum fünften Mal fand in München das internationale Tanz- und Performancefestival „Think Big“ statt. Was 2011 als Festival für junges Publikum mit altersgerechtem Einblick in die Kunstform Tanz begann, hat sich zu einer festen Größe in der bayerischen Tanzszene entwickelt und bot dieses Jahr über eine Woche lang ein vielfältiges Programm. An verschiedenen Orten der Stadt wurde entdeckt, probiert, sich ausgetauscht, geschaut – quer durch sämtliche Tanzstile, Genres und Formate.
Wenn man am Samstag Abend in Richtung Muffathalle lief, begegneten einem so viele Menschen unterschiedlichen Alters wie wohl selten bei Veranstaltungen an diesem Ort. Jugendliche mit ihren Eltern, Schülergruppen, Lehrer und das gemischte Stammpublikum des zeitgenössischen Tanzes in München. Zu recht betonte Stadtdirektor Anton Biebl in seiner nachträglichen Eröffnungsrede, dass „Think Big“ in seinem fünften Jahr nicht mehr aus dem Festivalkalender der Stadt München wegzudenken ist. In der voll besetzten Halle ging das Gastspiel „Portraits & Short Stories“ der niederländischen Company Panama Pictures voll auf. Die Choreografin Pia Meuthen vermochte es Männerbilder und -beziehungen auf die Bühne zu bringen, die bei 12- bis 80-jährigen Zuschauern ankommen. Sechs Männer im Alter von 20 bis 60 Jahren konnte man in der Konstellation Vater und Sohn, Freund und Rivale, Bruder und Bruder, als Individuum und Gruppe, bei der Suche nach Gemeinschaft, nach Individualität und Abgrenzung, nach Familienbanden und Frage des Älterwerdens beobachten. Dabei reichten drei sehr simple Geräte, das Seil, die chinesische Pole-Stange und der Trampolin, um die Akrobatik zu einer virilen Kunstform des zeitgenössischen Tanzes übergehen zu lassen. Das jugendliche Publikum durfte coole Männerbilder in lässiger Alltagskleidung jenseits der gängigen Ballett- und Musicalmänner erleben, die Eltern konnten unter Umständen ihre ersten Erfahrungen mit zeitgenössischem Tanz machen. Ganz nebenbei wurde hier dringend benötigtes Gender Mainstreaming betrieben, nur ausnahmsweise mal anders herum als gewohnt. Während Mädchen über eigene Ballett- und Tanzstunden leichter in die Tanzvorstellung finden, bleiben gerade die Jungs gerne zuhause am Computer hängen. Doch den Tänzerakrobaten der „Portraits & Short Stories“ gelang es mühelos Jugendlichen mit ihren Eltern oder Lehrern ein höchst vergnügliches und lässig virtuoses Theatererlebnis zu verschaffen, ohne dass eine der Generationen von Peinlichkeit ergriffen wird. Dass die Produktion etwas zu viel Akrobatikshow und etwas zu wenig choreografische und konzeptionelle Detailarbeit aufwies und daher hier und da redundant wurde, ist angesichts dieses Aspekts und des großen Erfolgs kaum nennenswert.
Unter dem Motto „Nicht nur zeigen, was geht, sondern Lust machen zum Selbermachen“ bot das Festival neben Vorstellungen auch Workshops. Jener Teil des Festivals - der „Workspace“ - gab einmal mehr Raum für Tanz als Form zur kulturellen Bildung und bot die Möglichkeit, Physical Theatre, zeitgenössischen Tanz und Breakdance zu praktizieren und in die Bereiche Tanzdramaturgie und Tanztheater hineinzuschnuppern.
Tanz in seiner Vielgestaltigkeit näher zu bringen, vermochte auch das Vorstellungsprogramm, das sich an alle Interessierten zwischen 3 und 99 Jahren richtete. Neben dem Projekt „Bits & Pieces“, das Einblicke in choreografische Projekte Münchner SchülerInnen gewährt, und einer öffentlichen Probe der Junior Company des Bayerischen Staatsballetts, beschäftigte sich die Jugendlichen des Tanzmainz Clubs (Staatstheater Mainz) mit dem politischen Potential des Körpers in Verbindung mit den Protesten auf dem Istanbuler Taksim-Platz 2013. Die Performances von Martin Nachbar, Silke Z. und Anna Konjetzky – allesamt wohlbekannte Namen in der zeitgenössischen Tanzszene – drehen sich um Verhältnisse, Beziehungen und Gruppendynamiken, also nicht zuletzt um Tanz und Bewegung als Mittel zur Verständigung.
„Zeigen, was geht und Lust machen zum Selbertanzen“ könnte man das letzte Stück des Festivals übertiteln. Dabei führte zum Abschluss Anna Konjetzky noch einmal vor Augen, was an Teenagern und Twens so nervzehrend sein kann: unüberlegtes Handeln, Distanzlosigkeit und die Eigenart, unbeteiligte Mitmenschen in dummes Zeug hineinzuziehen. In „Out“ versammelte die Münchner Choreografin im Mucca an der Dachauer Straße eine Clique von acht Tänzern, die in einer Arena aus Schlagzeug, Gitarre und Rhythmusmaschine ihr Unwesen treiben. Jeder Einzelne der Youngsters schien eine süße Person zu sein, doch vereint proben sie den Aufstand. Die Truppe wogt und schwingt im Wind der Musik hin und her, bricht zwischendurch einfach in die Zuschauergrüppchen hinein und splittert sich dort in zuckende Solos auf, rücksichtslos und wo es gerade passt. So mancher Zuschauer wird angerempelt, eine der jungen Damen müssen ihre Kumpels sogar abschleppen, so irre gebärdet sie sich. Genau so brachial ist auch die Musik: Sergej Maingardts Rock- und Technoklänge sind so laut, dass die Hälfte der Zuschauer mit blauen Ohropax-Stöpseln links und rechts einer verunsicherten Miene herumsteht. Einer sinnvollen Wirkung des großen Ganzen ist das wenig zuträglich.
Als die Terrorclique sich auflöst und die ˗ alleine wieder liebenswerten ˗ Mitglieder Zuschauer anflüstern, sie an der Hand nehmen und auf die Tanzfläche ziehen, ist das Vertrauen eigentlich schon verspielt. Klar, alle sollen mittanzen, und der Beat taugt auch dazu. Aber die nötige Leichtigkeit, wie zum Beispiel bei Richard Siegals interaktivem Supererfolg „Co Pirates“ von 2010, kommt nicht auf. Es ist nicht zu übersehen, Konjetzkys neue Werke, auch dieses, sind von Siegals Gruppendynamik beeinflusst. Dieser steht an diesem Abend übrigens mit roter Mütze im Publikum und geht voll mit, so dass man ins Zweifeln gerät, ob er nicht ein heimlicher Mitspieler ist. Damit entsteht wieder einmal in einem Konjetzky-Stück ein skurriler Reality-Überschneidungseffekt, wie schon einige Male zuvor. Die überraschende Verbindung von Fiktion und Realität ist das herausragende Merkmal der Choreografin. Zuletzt schwärmen natürlich die Zuschauer in die Mitte und tanzen, mancher köpft sich vorher ein Bier. So mancher Senior geht dabei verdächtig aus sich heraus. Was ist gespielt, was echt? In den ohrenbetäubenden Goa-Beats verschwimmen die Grenzen der sozialen Wahrnehmung.
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