„Dreiklang“ am Staatstheater Nürnberg

„Dreiklang“ am Staatstheater Nürnberg

Im „Dreiklang“

Goyo Montero mit Johan Inger und Ohad Naharin am Staatstheater Nürnberg

Was unterscheidet den künstlerischen Ansatz von Goyo Montero von jenem seiner Zeitgenossen Johan Inger oder Ohad Naharin? Der Abend „Dreiklang“ am Staatstheater Nürnberg gibt aktuell Anlass darüber einmal wieder nachzudenken.

Nürnberg, 02/06/2015

Was unterscheidet den künstlerischen Ansatz von Goyo Montero von jenem seiner Zeitgenossen Johan Inger oder Ohad Naharin? Der Abend „Dreiklang“ am Staatstheater Nürnberg gibt aktuell Anlass darüber einmal wieder nachzudenken. Darüber hinaus setzt er die überaus respektable Bemühung fort, im Süden Deutschlands das Wissen um ein zeitgenössisches Repertoire aus dem Kreis jener Künstlerinnen und Künstler zu erweitern und zu festigen, die sich seit rund zehn bis fünfzehn Jahren auf den Ballettbühnen in Europa durchgesetzt haben oder zu den stilprägenden Tanzschöpfern gehören. Neben Inger und Naharin zählen hierzu die ästhetischen Handschriften von Nacho Duato, Douglas Lee oder Crystal Pite, nicht zu vergessen jene der Heroen Mats Ek oder Jirí Kylián. Allein deswegen darf man sich auf die künftigen Spielzeiten in Nürnberg freuen.

Nun also Inger und Naharin. Letzterer stellte Nürnberg sein Erfolgsstück „Minus16“ zur Verfügung, das mit Naharins „Gaga“-Technik vertraut macht. Hier kommt der Tänzer durch eine starke Fokussierung des Bewusstseins nach innen, darauf, was in und mit seinem Körper geschieht, zu andersartigen, verflüssigten Bewegungen, die sich quasi aus seinem Körper herausschälen. Zuletzt in Dresden an der Semperoper gesehen, überrascht die weichere, weniger rotzige Nuance, mit der das sympathische Ensemble dieses, so scheint es, permanent vor sich hinexplodierende, eklektische Stück tanzt. Zusammengesetzt aus einzelnen Stücken, die vorrangig in den 1990er Jahren entstanden sind, führt Naharin seine Zuschauer so weitgehend wie nie zuvor an die Praxis heran, die vierte Wand zwischen Bühne und Parkett durchlässig zu machen und den Zuschauer in seinen Sehgewohnheiten herauszufordern. Kindermund tut hier Wahrheit kund: Nachdem ein einzelner Tänzer bereits in der Pause vorne an der Rampe tänzelnd, sich verknotend, verbiegend und entwaffnend lächelnd seine Zuschauer beehrte, hernach die ganze Truppe in derselben Manier die Bühne füllte, bis der Vorhang nach wenigen synchron ausgeführten Gesten fällt, jubelt die jüngste Zuschauerin des Abends, weil sie schlussfolgert: „Jetzt ist das Stück doch aus.“ Und natürlich ist auch am Ende das Gejohle in Nürnberg groß, wenn die Truppe, alle in Herrenanzügen und mit Melone auf dem Kopf, Zuschauerinnen und Zuschauer auf die Bühne hoch zum Chachacha bittet. Hinter diesem Aufruhr, angestachelt durch laut gespielte, harte elektronische Beats, lauern aber die unverdauten Momente europäischer Geschichte und eines Lebens in Israel. Wenn etwa über zwanzig Männer und Frauen im weiten Stuhlkreis synchron und ritualisiert die immer gleiche Folge hart ausgespielter Gesten durchführen, diese erweitern, jeweils am Ende laut eine israelische Zeile singen, so lange bis sie nur noch in grauer Unterwäsche dastehen und sich Schuhe und Kleider in der Mitte türmen. Nur einer am Rand, bis zum Ende angezogen, fällt permanent zu Boden. Oder wenn gleich danach nur zum Schlag des Metronoms die Frauen am Bühnenrand stehen und permanent wieder eine neue Gestenreihe durchexerzieren. Überleben kann so aussehen.

Weitaus geschlossener sind im Vergleich hierzu „Rain Dogs“ von Johan Inger, entstanden im Jahr 2011, und das neue Werk von Goyo Montero selbst „111“. Schlicht betörend ist Ingers Kreation, die inspiriert ist von Inhalten der Songs von Tom Waits. Geschickt zaubert Inger mit dem gesamten Setting einen amerikanischen Retrolook auf die Bühne. Transistorradios, Lautsprecher und Plattenspieler bilden zusammengeschoben ein eigentümliches Objekt. Davor schaffen beeindruckende Lichtspiele intensive Stimmungen von Mittagshitzen, dunkel bewölkten Endlosnachmittagen oder warmen Nächten an Orten im Nirgendwo, wo sich Männer und Frauen begegnen, ihre Sehnsüchte und Geschichten durchlaufen und wieder auseinandergehen. Auch hier dominieren, neben dem an Kylián geschulten Stil, synchron in Reihe oder Gruppe getanzte Minibewegungen, die dem Solotänzer gegenübergestellt werden. Das Thema, das diese Choreografie motiviert hat, Männer und Frauen und ihre Konflikte und ihre Sehnsüchte miteinander, ist zwar da, tritt aber lange eher beiläufig auf bis zu jenem magischen Moment, als sie die Kleider tauschen. Fasziniert und entrückt beobachtet man insbesondere das Duett zwischen Marina Sánchez und Max Zachrisson, das die eigene Wahrnehmung verschiebt. Wer verhält sich jetzt „weiblich“ in seinem Verhalten? Wer „männlich?“ Die Gesten und Bewegungen verlieren ihre Konnotationen und kreieren einen wunderschönen Raum der Unbestimmtheit.

Genau gegenteilig verhält sich abschließend hierzu Monteros neueste Kreation. Er ist, bemerkenswert der Gedanke, ein sehr deutscher Choreograf geworden. Seinen dynamischen, physisch hochanspruchsvollen Bewegungsstil kombiniert er seit langem kontinuierlich mit Themen, die tief in der menschlichen Seele schürfen. So auch jetzt. Wunderbar auf Beethovens Sonate op. 111 gesetzt, hat Montero eine ihm eigene Szenerie entworfen, in der er seine künstlerische Forschung über die Inszenierung von Ich- und Welterfahrung fortsetzt. Sein Narrativ diesmal: Ein Mann, der sich sich ganz langsam innerlich auf den Punkt hin entwickelt, die Liebe zu einer Frau zu wagen und Vater zu werden. Ein ungewöhnliches und von daher bewundernswertes Thema für die Tanzbühne. Überhaupt: Familie schält sich zunehmend als Topos im grandiosen choreografischen Werk dieses Künstlers heraus. Was ihn darüber hinaus von anderen unterscheidet: Er dynamisiert den Raum und macht diesen zu einem Mitspieler neben dem Tänzer. Wieder sind rasche, harte Lichtwechsel sowie mehrere Wände auf der Bühne im Einsatz. Sie werden geschoben, gedreht, zu Räumen zusammengeschoben. Sie verschlucken den Tänzer, lassen andere hervorspringen. Der Protagonist, der mal solo agiert, mal zu zweit, zu dritt, mal eine ganze Männertruppe im Rücken hat, kann auf diese Weise authentisch und anmutig eine Seele verkörpern, die im Verstand, hier eben verräumlicht, mal einen Gegenspieler, einen Haltepunkt, einen Anker, eine essentiell gegebene Dualität vorfindet. Der Betrachter kommt in den Genuss, dass sich der eigene Standpunkt verschiebt, ähnlich einem Zimmer, in dem die Möbel plötzlich an der Decke hängen oder in dem man meint, die Wand hochklettern zu können. Zart verkörpert Sayaka Kado das Weib und Sehnsuchtsobjekt in diesem Kaleidoskop des Tanzes. Als das Kind die Bühne betritt und Goyo Montero, er tanzte kürzlich selbst, ihn an der Hand nimmt, gerinnt alles zu einem konkreten Erzählstrang. Berührend.

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