Verdient
Goyo Montero erhält Bayerischen Verdienstorden
Zwei Choreografen, zwei Stücke und ein Tanzensemble, das keine Wünsche offen lässt. In Nürnberg hatte am 29. April der Zweiteiler „Shechter/Montero“ Premiere – ein in sich erstaunlich schlüssiger, dabei furios konträrer Abend. Das Staatstheater Nürnberg Ballett präsentiert sich darin erst wild, poetisch, kriegerisch und schließlich überaus wirkungsvoll im Spannungsverhältnis zwischen körperbetonter Ausgelassenheit und formeller Strenge. Was tänzerisch in beiden Stücken an Emotionen – in jeweils fein austarierter Vielschichtigkeit – geboten wird, ist kaum nacherzählbar. Inhaltlich lässt sich sowohl „Anthem“ von Ballettchef und Gastgeber Goyo Montero als auch Hofesh Shechters „tHE bAD“ vor allem intuitiv-sinnlich begreifen.
Fulminanter Rausschmeißer: „tHE bAD“ von Hofesh Shechter
Hofesh Shechters „tHE bAD“ beginnt nach der Pause mit einem imposanten Bild, das aus zwölf Tänzerinnen und Tänzern in hautengen goldenen Ganzkörper-Trikots besteht. Ein ungewöhnlich bombastischer Look – und in seiner Wirkung überaus artifiziell – für ein Stück des israelischen Choreografen, der sein Publikum sonst gern mit „Arbeiten aus dem Bauch heraus“ drastisch aufwühlt. Zu Beginn steht ein Teil der Protagonist*innen locker-lässig da – Körper an Körper gereiht wie ein fast schon. Sie halten sich – die Brust breit nach vorne geschoben, den Kopf stolz erhoben – gegenseitig an Armen und Schultern fest. Andere hocken in den Zwischenabständen davor am Boden, die Beine adrett nach rechts von sich gestreckt und den aufgerichteten Oberköper auf einen Arm gestützt. So funkelt die ganze Gruppe wie eine Eins auf der anfangs spärlich von oben beleuchteten Bühne. Die Zuschauer*inne nehmen die schillernden Konturen einer Reihe starker Persönlichkeiten wahr, die alle Richtung Publikum blicken. Gleichzeitig lässt Shechter (mit Anleihen bei Rapper Mystikal und Jordi Savalls Alte-Musik-Ensemble Hespèrion XXI) seinen eigenen Sound richtig laut über alle hinwegrauschen.
Dieser sich ins Gedächtnis grabende Freeze dauert nur kurz. Dann legen Oscar Alonso, Jay Ariës, Carlos Blanco, Kade Cummings, Andy Fernández, Kate Gee, Victor Ketelslegers, Mackenzie Meldrum, Edward Nunes, Ana Tavares, Stella Tozzi und Alisa Uzunova los. Sie schütteln ihre Hände in der Luft und flitzen bald in Helligkeit getaucht exaltiert hin und her. Mal sacken alle ins tiefe Plié, dann bringen alle nur ihre Schultern zum Kreisen. Das Ensemble twistet vergnügt, springt und hopst, bewegt sich butterweich schlängelnd oder bewusst ganz kantig, kippt aus in aggressivere Moves oder breitet die Arme seitlich aus und arbeitet sich divenhaft-platzeinehmend zur Rampe vor. Eine Freak-Show geprägt von individueller Power, bei der sich alle Partygäste frei austoben dürfen, scheint nichts dagegen.
Doch dann erklingt plötzlich Renaissancemusik. Die zwölf Interpret*innen sinken aufs Knie, richten sich wieder auf und lassen Fäuste vor ihren Brüsten kreisen. Gerade noch herrlich ausgeflippt, üben sie sich nun in sauberen Verkettungen, klaren Formationen, Reihungen und unisono genau definierten Posen. Einige Augenblicke lang verharren sie wieder fast bewegungslos still.
Der abrupte Wechsel im sonst fließenden Übergang wirkt magisch. Weitere visuelle Effekte machen mitunter den Reiz dieses passagenweise ungestümen, teils frappierend in seinem Drive gezügelten Werks aus. Sequenz für Sequenz baut sich hier immer wieder neu aus Dynamik, Energie und darstellerischer Allüre der Tanzenden auf. So können alle brillieren und für sich aus der Masse herausstechen, doch der Gruppenzusammenhalt wird nie vollends aufgegeben.
Shechter hatte „tHE bAD“ 2015 ursprünglich mit und für fünf seiner eigenen Kompaniemitglieder kreiert. Die Idee dabei war, bei nächtlich abgehaltenen Proben erst einmal auf alle sonst üblichen Strukturen zu verzichten und frei zu erkunden, wohin ein „Groove“ aus Rhythmus und Emotionalität führen könnte. Nun ist Shechter zum zweiten Mal in Nürnberg zu Gast und hat für die seit 15 Jahren von Goyo Montero geleitete Ballettkompanie eine um sieben Mitwirkende erweiterte Neufassung erarbeitet.
Dass das Ensemble zwischendurch aus seiner Performancerolle fällt, sich quasi eine kurze Auszeit mit persönlichen Lockerungseinheiten gönnt, gehört ebenso dazu, wie das Publikum zum Mitklatschen zu bewegen. Am Ende preschen alle vor zur Rampe und vollführen unmittelbar vor der ersten Zuschauerreihe eine traditionsverhaftete Reverenz. Den Arm akkurat vor der Brust und die Hand am Herzen verabschiedet man sich. Alle inhaltlichen Deutungsmöglichkeiten bleiben offen.
„Anthem“ von Goyo Montero
Nicht so bei „Anthem“, das Goyo Montero für die rein brasilianische São Paulo Companhia de Dança kreiert hatte und nun als hauseigene Version in Nürnberg präsentiert. 2019 war das noch zur Regierungszeit von Präsident Bolsonaro. Laut eigener Aussage handelt es sich um eine ungewöhnlich politische Arbeit ohne direkten Bezug zu aktuellen oder seinerzeitigen Geschehnissen. Starke Aussagekraft zeichnet auch die neue Version aus, die durchaus Uraufführungscharakter besitzt.
Montero zieht die Zuschauer*innen vom ersten Augenblick an mit hinein in ein beständig im Fluss befindliches Gruppengefüge. Die 18 Tänzerinnen und Tänzer sehen aus wie Überlebende einer Katastrophe. Oder sind es Krieger*innen, in deren Körper das Leben seine Spuren gegraben hat und die sich nun aus dem Staub einer kargen Wüstenlandschaft erheben?
In einem dunstigen, von Dunkelheit gesäumten Raum ragen sie vom Boden auf, gestaffelt zu einer Reihe kraftvoll in sich pulsierender Individuen – äußerlich schlammverdreckt (Kostüme mit Körperpainting: Fábio Mataname), innerlich entschlossen, Wirkung zu entfalten. Ihre Arme sind emporgereckt, die lockergelassenen Hände werden heftig geschüttelt. Teil für Teil sinkt das Ensemble zu Boden und richtet sich wieder auf: Gruppenbewegung im Strömungsmodus einer sich verselbständigenden Welle. Noch ganz ohne klare Definition oder irgendein erkennbares Ziel. Eine Reise durch ein Universum unterschiedlichster Stimmungen und Gefühlswelten beginnt. Als von der Decke 18 Lampen sternengleich herabsinken, macht sich für Augenblicke Ruhe breit. Die Akteure – jeder das Gesicht unter einer eigenen Lichtquelle – liegen in entspannter Position da und scheinen ihre Ressourcen aufzuladen.
Akustisch dominiert ein lautes, anfangs noch regelmäßiges Atemgeräusch. Ein Sound, der sich bald – und fortan permanent – verändert und der in seinen insgesamt sechs durchkomponierten Sequenzen um singende, skandierende und protestschreiende Stimmen sowie zuletzt ein tief gutturales Raunzen bereichert wird. Owen Belton, seit langem Monteros musikalischer Kreativpartner, hat unter Einbindung und Verfremdung seiner eigenen Stimme eine idiomatische Musik komponiert, die sich aufzufächern vermag wie die Tänzer, wenn diese über die ganze Bühnenfläche ausschwärmen.
Plötzlich erklingt ein Marsch, eine Art Hymne, als würde sie von Massen in einem Stadion dahin geschmettert. Die Tänzer sind wie Athlet*innen für ein Siegerbild formiert: hinten stehend, vorne kniend. Sie zerfallen in einen Kanon von vier sich jeweils unterschiedlich bewegenden Parteien. Später prallen Gruppen aufeinander. Es kommt zu Auseinandersetzungen. Die Tänzer*innen stimmen lauthals live in die digital erzeugten Klänge ein, von denen sie angetrieben oder zu choreografischen Aktionen motiviert werden. Einzelne lösen sich aus dem gegeneinander aufgebrachten Gemenge und rennen aufeinander zu. Menschen prallen zusammen, Paare kollidieren in Hebungen miteinander. Gewaltvolle Momente, die Belton unmissverständlich – beispielsweise durch das Geräusch von zerbrechendem Glas – noch betont.
Die niemals ihren losen Zusammenhalt völlig verlierende Einheit zerfranst sich immer wieder in einzelne Bestandteile. Für kurze, bisweilen solistisch sehr virtuose Interventionen oder spannungsgeladene Duos lösen sich vor Persönlichkeit schier berstende Körper aus dem Ganzen heraus. Am Ende liegt die gesamte Mannschaft am Boden. Nur eine Tänzerin vorne links auf der Bühne ist stehen geblieben. Sie hebt die Arme. Ihre Hände beginnen zu wedeln. Ein menschlich-erhabener, unvergesslicher und absolut aus der Zeit fallender Moment.
Mit eineinhalb Stunden inklusive einer Pause ist die reine Spielzeit des umjubelten Doppels „Shechter/Montero“ nicht übermäßig lang. Doch der Zuschauer wird einem dermaßen rasanten Bombardement unterschiedlichster dynamischer und energetischer Eindrücke ausgesetzt, dass die real verstreichende Zeit an Bedeutung verliert. Am Ende fühlt man sich durch die famosen Tänzerinnen und Tänzer visuell reich beschenkt. Und das, obwohl eigentlich permanent die Gruppe im Zentrum bleibt, sich letztlich alles aus einer Gemeinsamkeit heraus entwickelt. Die Parallelen zwischen Monteros „Anthem“ und Shechters „tHE bAD“ stechen ins Auge. Beide Stücke glänzen und ergänzen sich wie zwei Seiten derselben Medaille. Daran kann man sich nicht satt sehen!
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments