Jenseits von schwarz und weiß
Osiel Gouneo stellt seine Autobiografie vor
Eine Einordnung von Dirk Scheper, Nele Hertling, Reinhild Hoffmann und Ivan Liška
Das Bayerische Staatsballett veranstaltete kurz vor der Premiere seiner Rekonstruktion der 1977 von Gerhard Bohner erarbeiteten Neufassung von Oskar Schlemmers „Das Triadische Ballett“ einen Abend der beliebten Reihe „Ballett extra“, um einen exemplarischen Blick auf die deutsche Tanzgeschichte zu werfen.
Zuerst rief Dr. Dirk Scheper von der Berliner Akademie der Künste einige Daten aus dem Leben Oskar Schlemmers ins Bewusstsein: Dessen Eltern waren Maler am Bauhaus, er selbst wollte als Maler und Bildhauer den Leitsatz des Bauhauses verwirklichen, in „Kunst und Technik eine neue Einheit“ zu sehen, und wurde früh von dem Solotänzer-Paar Hötzl zu seiner Hinwendung zum Tanz inspiriert. 1915 verwundet aus dem 1. Weltkrieg nach Stuttgart zurückgekehrt, arbeitete er als Maler und Plastiker ab April 1920 an den Kostümen für ein Kostümballett, das als Dreiklang aus Bildender Kunst, Musik und Darstellung einen bedeutenden Beitrag zu den Reformideen des Theaters in dieser Zeit leistete. Er reiste im Juni desselben Jahres nach Weimar und war ab Januar 1922 am Bauhaus unter Vertrag. Am 30. September 1922 fand die Uraufführung seines „Triadischen Balletts“ in Stuttgart statt, das dann u. a. in Weimar und Dresden gezeigt wurde, aber in seiner ursprünglichen Fassung wenige Erfolge erlebte. Denn von der Uraufführung bis heute empfand man es als Widerspruch, ein mechanisches Konzept mit lebendigen Tänzern zu zeigen. Wer war schon fähig, in der Reihe der Präsentation 18 geometrischer Kostüme den Sinnzusammenhang zu erkennen, der sich aus der Untersuchung strenger formaler Prinzipien ergab? Fast alle Hoffnungen Schlemmers mit diesem Werk zerschlugen sich, in den USA wie in Paris, er verausgabte sich finanziell und starb bereits 1943 mit nur 55 Jahren.
Nach „Kugelrock und Zylindermann“, einem ersten Tanzausschnitt aus der gelben Reihe des „Triadischen Balletts“, brachte Nele Hertling, Vizepräsidentin der Akademie der Künste in Berlin und seit Jahrzehnten für den modernen Tanz in Deutschland aktiv, die aktuelle Rolle des „Tanzfonds Erbe“ ins Spiel, einer Initiative der Kulturstiftung des Bundes, um Verlorenes aufzuspüren und zu bewahren – damit man weiß, woher man kommt. Dann lenkte sie den Blick auf den 1936 geborenen Gerhard Bohner, der sowohl bei Mary Wigman tanzte als auch bei Tatjana Gsovski an der Deutschen Oper Berlin, als Tänzer schon eine ausgefallene Position einnahm und seit 1964 als Choreograf die Auseinandersetzung mit moderner Musik und Kunst suchte. Zwar versuchte er 1968 als einer der Ersten, sich im Zuge der Tänzer-Emanzipation von der Institution Oper zu lösen, meinte aber, in einem Kollektiv choreografieren könne er nicht, als Choreograf brauche er Autorität. 1971 gelang ihm mit „Die Folterungen der Beatrice Cenzi“ sein erfolgreichstes Stück, in dem er auch den Druck der Strukturen auf das Individuum thematisierte. Sein Ausspruch „Die Zeit war so schnell, dass uns die Wirklichkeit eingeholt hat und dadurch zum Inhalt wurde“ ist ein Beleg dafür, wie Bohner damals mitten in seiner Zeit stand. 1972 verließ er mit einigen Tänzern Berlin und gründete sein Tanztheater in Darmstadt. 1978 bis 1981 leitete er mit Reinhild Hoffmann das Tanztheater Bremen und gehörte mit ihr, Pina Bausch, Susanne Linke und Johannes Kresnik „zu den Leitfiguren des choreografischen Aufbruchs der 1970er- und 1980er Jahre“ (Reclams Ballettlexikon). Während seiner Fassung des „Triadischen Balletts“ fand er in der Strenge, nach der Schlemmers Kostüme verlangten, etwas, was den Verlust der Form ausglich, mit dem der freie Tanz in den 70er Jahren außerhalb der großen Häuser einherging. Im Spannungsfeld zwischen klassischer Technik und modernen Tanzformen trug er viel dazu bei, dass es in Deutschland eine zeitgenössische Tanzszene gibt und der Tanz als eigene Kunstform wahrgenommen wird. Von dieser Würdigung Bohners durch Nele Hertling ausgehend, erinnerte Bettina Wagner-Bergelt an die Gründungsmaxime des Bayerischen Staatsballetts, nach der Tanz ebenbürtig neben Schauspiel und Oper zu stehen habe – noch immer eine Position, die stets neu erstritten werden muss!
Nach dem Tanzausschnitt „Kugelhände“ erzählte Reinhild Hoffmann von der Probenarbeit für „Das Triadische Ballett“. Damals sei es Gerhard Bohner klar gewesen, dass er zuerst die Kostüme brauchte, um sehen zu können, wie man sich darin bewegen kann. „Dabei war ich sein erstes Versuchskaninchen“. Einen Monat lang probierte man an der Tanzabteilung der Essener Folkwangschule die Kostüme aus und lebte mit Kostümbildnern zusammen, die für ihre Neuanfertigungen nach Schlemmers Entwürfen praktische Erkenntnisse der Tänzer umsetzten, durch Änderung der Materialien etwa, wenn ein Kostüm zu schwer war. Dabei sei es nicht nur um das Heben einer Kostümlast gegangen, sondern mit einer kleinen Demonstration machte Reinhild Hoffmann klar, dass auch die Rotation in einem zu schweren Kostüm nicht leicht kontrolliert zu beenden ist. Mit dem Hinweis darauf, dass das Bauhaus die Künste vereinen wollte, der zeitgenössische Tanz nach dem 2. Weltkrieg aber, abgesehen vom privaten Kreis um Mary Wigman, nur noch durch Kurt Joos an der Folkwangschule erhalten war, während in den USA Martha Graham, Merce Cunningham und José Limón ihre jeweilige Technik entwickelten, wies sie die Tanzakademie in Essen als idealen Ort für die Rückbesinnung auf die Versuche Oskar Schlemmers aus. Der habe die Geometrie des Körpers vereinfachend stilisiert und ihre Teile verdeutlichend in den Kostümen wiedergegeben. Es sei faszinierend, dass der Mensch der Motor ist, der diese abstrakt stilisierten Objekte im Raum bewegt. Als Tanzausschnitt folgte der „Zylindermann“.
Ivan Liška brachte sich weniger als Ballettdirektor ein als in seiner Eigenschaft des 1977 beteiligten Tänzers, als Gerhard Bohner dem „Triadischen Ballett“ von Oskar Schlemmer kreativ nachspürte, weil es keine Dokumentation der originalen Choreografie gab. Colleen Scott, die damals ebenfalls viel zu dieser Neufassung beitrug, Gislinde Scroblin und er probten in den Räumen des Instituts für Theaterwissenschaft in München. Im Rückblick unterschied Ivan Liška die üblichen Arbeitsbedingungen eines Theaterschaffenden, der all den Repertoirevorstellungen, Wiederaufnahmen und Premieren nachhastet, klar von denen, unter denen „Das Triadische Ballett“ in Bohners Version zur Musik von Hans-Joachim Hespos allmählich neu entstand. Lächelnd erwähnte er, dass er im Vorfeld der aktuellen Einstudierung, die er jetzt mit seiner Frau Colleen Scott leitet, oft gefragt wurde, ob der Eindruck richtig sei, dass ihm dieses Projekt seit Langem eine Herzensangelegenheit ist. Er beantwortete diese Frage wohl nie besser als an diesem Abend, indem er den Begriff „Reduktion“ einführte. Künstlerische Konsequenz, Ehrlichkeit und Integrität hätten sich damals gegen das noch heute herrschende Diktat behauptet, nämlich gegen die ständige Steigerung der technischen Virtuosität und darstellerischen Quantität. Ihm sei die Erfahrung wichtig, sich im Zustand der Fülle einmal darauf besinnen zu können, welche Kleinigkeit qualitativ etwas ausmacht. „Können Sie sich vorstellen, dass wir uns in der Hitze unter dem Dach sechs Stunden täglich damit plagten, wie sich dieselbe Bewegung, je nachdem ob sie mit links oder rechts beginnt, unterscheidet?“ Diese rigorose Arbeit wurde damals geleistet, weil man Rücksicht auf Oskar Schlemmer und seine künstlerische Radikalität nahm. Die Neufassung des „Triadischen Balletts“ durch Bohner erlebte seit ihrer Uraufführung am 2. September 1977 in den folgenden zwölf Jahren 85 Aufführungen in Europa, den USA, Kanada und Japan. Ivan Liška tanzte die meisten Vorstellungen. Er und Colleen Scott – ihr Trauzeuge war damals Gerhard Bohner – wollen mit ihrem Team jetzt den jungen Talenten des Bayerischen Staatsballetts 2 ermöglichen, mit Bohners Version, die tänzerisch ergiebiger ist als die bei YouTube zu sehende von Hasting/Schömbs/Verden, ihre eigene Erfahrung zu machen. Die „Ballett extra“-Besucher aber fanden die leitende Absicht überzeugend bestätigt: Tanzgeschichte muss lebendig erarbeitet werden.
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