Alexej Ratmansky mit Cyril Pierre bei Proben zu „Paquita“ am Bayerischen Staatsballett

Alexej Ratmansky mit Cyril Pierre bei Proben zu „Paquita“ am Bayerischen Staatsballett

Ein Rastloser

Alexei Ratmansky: Vom ersten Solisten zum weltweit gefragtesten Choreografen

Das Bayerische Staatsballett konnte ihn für eine Rekonstruktion von Petipas 1881 uraufgeführtes „Paquita“ gewinnen, das nach 1917 nur als Divertissement aus einem Pas de trois und der Nummernfolge des Grand Pas weiterlebte.

München, 10/12/2014

Vom ersten Solisten im Ukrainischen Nationalballett in Kiew zum weltweit gefragtesten Choreografen – der gebürtige St. Petersburger Alexei Ratmansky scheint das Ballettwunder des 21. Jahrhunderts zu sein. Nach erfolgreicher vierjähriger Direktion des Moskauer Bolschoi Balletts wechselt er 2009 als „Choreograf in Residenz“ ans New Yorker American Ballet Theatre (ABT), choreografiert daneben für die großen Ensembles rund um den Globus. Hierzulande ist er bereits am Staatsballett Berlin und an der Dresdner Oper vertreten. Jetzt konnte ihn das Bayerische Staatsballett gewinnen: für eine Rekonstruktion von Petipas 1881 in St. Petersburg uraufgeführtes „Paquita“ (Musik: Delvedez/Minkus), das nach 1917 nur als Divertissement aus einem Pas de trois und der Nummernfolge des Grand Pas weiterlebte.

Ratmansky ist nicht nur rastlos unterwegs zwischen New York, Mailand und Melbourne. Er choreografiert auch breit gefächert: rein Musik-inspirierte, abstrakte Stücke wie seine Schostakowitsch-Trilogie fürs ABT oder seine 24 Chopin-Préluden fürs Londoner Royal Ballet, erzählende (Literatur-)Ballette wie „Verlorene Illusionen“ und Klassiker-Rekonstruktionen wie Wainonens „Flamme von Paris“ und Petipas „Corsaire“, letztere drei fürs Bolschoi – um zumindest ein paar Titel und Ensembles zu nennen.

Das Wiederbeleben von Klassikern ist generell nicht gerade der Choreografen Lieblingskunst. Ratmansky jedoch stürzt sich mit Leidenschaft in die Historie, vertieft sich in die Kürzel und Symbole von Tanzschriften. Auf Fragen, warum er überhaupt zum Tanzen kam, wie er das interkontinentale Arbeiten verkraftet, antwortet er zwar freundlich, aber doch eher knapp und allgemeinplätzig. Obwohl zu der jüngeren Generation gehörig, die in der Perestrojka in den Westen aufbrach – Ratmansky tanzte zwischen 1992 und 2002 beim kanadischen Royal Winnipeg Ballet und Königlich Dänischen Ballett –, meint man in seiner Zurückhaltung noch die selbstschützende Vorsicht aus Sowjetzeiten zu spüren. Aber (!) geht es um Fachliches, ist er, Oberkörper vorgebeugt und Blick engagiert offen, ein mitteilsam in die Materie einsteigender Gesprächspartner.

Verändern werde er nichts, sagt er. Erzählt wird also die auf dem Hintergrund der napoleonischen Besatzung Spaniens um 1810 spielende Liebesgeschichte der schönen Zigeunerin „Paquita“ und des französischen Offiziers Lucien, der Séraphina, die Schwester des spanischen Gouverneurs, heiraten soll. „Der schwierigste Teil dabei ist die Pantomime“, gesteht Ratmansky. „Es gab damals sogar die Möglichkeit der filmischen Aufzeichnung. Alexander Schirjajew (1867-1941, Charaktertänzer und Filmpionier, die Red.) hatte Ensembles angeboten, zu filmen. Die Ballettchefs, auch Ballets-Russes-Impresario Sergej Diaghilew, meinten aber ‚Das brauchen wir nicht‘. Mithin müssen wir uns an Stichen, Photos und schriftlichen Notizen orientieren.“ Was das Schrittmaterial betrifft, halten sich Ratmansky und sein Tanzschrift-Experte Doug Fullington an die Stepanov-Notation, die entstanden ist, als Petipa um 1902 Anna Pavlova für ihr „Paquita“-Debüt vorbereitete. Damit bekommt man jetzt tatsächlich das Original-Ballett. Denn in den folgenden Einstudierungen - eigenhändig von Petipa in Neapel und Moskau, von hauseigenen Ballettmeistern in Budapest, Hamburg, Mailand und München (1848, unter Ballettmeister Johann Fenzl) - haben sich auch Veränderungen eingeschlichen. „Petipa selbst war ja sehr akribisch“, weiß Ratmansky. „Er hat genau die Beinhöhe angegeben, 45° oder 90°. Und in seinen Probennotizen in seinem Tagebuch schreibt er ‚Tut mir leid, das sind nicht meine Schritte.‘„

Natürlich verändern sich Ballette, weil sich Techniken und Ausdrucksformen weiterentwickeln. Die berühmte, die „russische Schule“ prägende Pädagogin Agrippina Waganowa (1879-1951) war durchaus offen für Neuerungen, was Ratmansky bestätigt und noch anfügt: „Ein neues ästhetisches Verständnis brachte auch die Revolution mit sich. Die weiche gezierte Armhaltung der Tänzerin galt als süßlich, als dekadent. In einem Russland der Arbeiterklasse hatten auch die Frauen stark zu sein. Die Ports de bras wurden ausholender, der Stil insgesamt athletischer. Dagegen kultivierten die Exilrussen das zaristische Klassikerbe.“ Und was ist nun typisch für Petipa? Spontan antwortet Ratmansky: „Viele ‚balancés‘ (Wiegeschritte, die Red.), viele Pirouetten, viele battierte Sprünge, schnelle Tempi, insgesamt eine anspruchsvoll komplexe Technik, die jedoch für die Tänzerin eine anmutige weibliche Linie wahrt. In diesem Petipa gibt es auch ganz verschiedene Stil-Qualitäten. Paquita ist die freie, lebensprühende Zigeunerin, aber eigentlich, wie man am Ende des Balletts erfährt, eine Angehörige des französischen Adels, der die Damen zu preziösen Wesen stilisiert. Während Séraphina in die steife spanische Etikette korsettiert ist.“

Von den romantischen und dramatischen Stil-Elementen dieses Petipa zur harten Berufsrealität: Der Kampf um Rollen ist bei den heute technisch glänzend ausgebildeten Tänzern offensichtlich härter als früher. Als Bolschoi-Ballettchef hat Ratmansky das selbst erfahren. Die Intrigen steigerten sich bei seinem Nachfolger Sergei Filin, der durch einen Säureanschlag einen Teil seines Augenlichts verlor. Wie ist das Problem der Tänzer mit ihrer kurzen Karriere und ihrem brennenden Tanzwunsch zu lösen? Ratmansky pragmatisch: „Ganz einfach. Wenn man sich nicht ausreichend gewürdigt fühlt, muss man seinen Weg in einem anderen Ensemble suchen.“

Premiere im Münchner Nationaltheater am 13. 12., 19 Uhr 30. Karten 089/2185 1920

 

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