Liebe kann tödlich sein

Ein Bühnenstück mit 127 Pubertierenden einzustudieren, ist wahrscheinlich ähnlich anstrengend wie die Besteigung des Nanga Parbat. Das Bayerische Staatsballett leistet den Kraftakt trotzdem jedes Jahr vor der Sommerpause, um der achten Jahrgangsstufe des Heinrich-Heine-Gymnasiums (seit 2012), sowie Jugendlichen der Berufsschule für den Einzelhandel die Möglichkeit zu geben, mit Tanzprofis zu arbeiten. Ohne Hiphop, sondern mit klassischer Musik.

„Ohne Dich ist alles nichts“ heißt die aktuelle Produktion, die sich um menschliche Bindungen dreht – und die Angst davor. Wenn gleich zu Beginn der kräftige Capoeiristo Firas Saka die blütenfrisch singende, ins papierne Brautkleid gewandete Sophia Dekkers entführt, ist das schließlich ein klares Statement: Beziehungen beinhalten immer auch die Möglichkeit von Gewalt. Oder Abhängigkeit. Oder Gefangenschaft. Und dann sind da ja noch die anderen: Wie reagieren sie, wenn aus dem konformen Wirbel, dem fliegenden Wechsel der Gruppenaufzüge, zwei Individuen ausbrechen? Die Kreidesilhouette eines Jeden wird doch an die Wand gebannt, und womöglich entsteht durch neue Freundschaften ein falsches Bild...

Auch Tränen und Tod thematisieren die Jugendlichen, die über mehrere Wochen von 14 Tanzprofis angeleitet wurden, darunter Kammertänzer Norbert Graf und Choreografin Lenka Flory. Die musikalische Basis ist Mozarts „Mitridate, Re di Ponto“, und so besteht kein Zweifel, dass verunglückte Beziehungen fatal sein können. „Stirb!“ ruft Firas Saka in Schwarz und ganze Abteilungen seiner Kameraden stürzen zu Boden. Auch ein pompöses Kleid, das ein auserwähltes Mädchen anziehen, darf wirkt tödlich. Veränderungen im sozialen Gefüge sind gefährlich! Doch ohne Beziehungen geht es auch nicht – „weil ich es HASSE, allein zu sein!“, brüllen die jungen Leute ihre Kernaussage gegen die Wände.

Tänzerisch ist ein Abend mit 127 Amateuren natürlich schwierig. Flory und ihr Team setzen vorwiegend auf Raumeffekte wie lange Menschenreihen, die nach vorne und hinten schwanken und sich durchfließen, oder einfach große, aus Paaren bestehende Gruppen.

Ein Wermutstropfen ist, dass die Schritte nun mal so einfach sein müssen, dass der Unbedarfteste sie noch schafft. Diejenigen, die voller Energie und Tanzkunst steckten, sah man folglich öfter mit konzentrierter Langeweile ihr Tempo drosseln und panisch zählen, um im Meer der aufgezwungenen Langsamkeit nicht den Einsatz zu verpassen. Die tragischen Sequenzen aus „Mitridate“ sind, obgleich berührend und fürs Thema passend, eben nicht das, was Jugendliche in Bewegung bringt. Vor allem die Mädchen hätten gerne richtig losgelegt, war zu sehen, doch es gab nicht mal für die Beweglicheren unter ihnen eine flotte Extrachoreografie. Anders die Jungen: In einer Kampfszene verausgabten die Besten sich mit Genuss, in kurzen Slapsticknummern brillierten manche als heimliche Schauspieler.

So erlebte das Publikum Licht und Schatten. Mit Mozart und Magie bewegen die Gefühle, die Jugendliche in Beziehungsdingen hegen. Dass die Mädchen aber so viel mit Kleidern hantieren und passiv bleiben, wirkt konventionell. Weniger Massenszenen, mehr Solos wären ein Rezept, mit dem „Heinrich tanzt“ sicher noch spannender würde.