Es ist ein Totentanz der besonderen Art, den das Bayerische Staatsballett in 16. Auflage der Montagsreihe auf die Bildschirme bringt. In einer Fassung für die Bühne des Münchner Nationaltheaters hat Andrey Kaydanovskiy als Hauschoreograf seine Kreation eines Kriminalballetts, „Cecil Hotel“ von 2019, aus dem dreiteiligen Ballettabend „A Jour“, im Prinzregententheater, nun auch auf häusliche Bildschirme übertragen lassen. Eben, zu Hause, Bildschirm, Rotwein, Snacks und Kribbeln auf der Haut, geht es rasant ab für eine gute halbe Stunde in das berühmt-berüchtigte Cecil Hotel in Downtown Los Angeles. Inzwischen, nachdem seit drei Wochen eine Netflix-Dokumentation in vier Folgen versucht Licht ins Dunkel der mörderischen Geschehnisse in den ursprünglich 700 Zimmern auf 14 Stockwerken des 1924 eröffneten Hotels zu bringen, dürfte ein Kriminalballett, das an diesem Ort spielt, von besonderem Interesse sein.
Kaydanovskiys Totentanz beginnt in totaler Dunkelheit mit klanglichen Assoziationen. Wasserplätschern, immer stärker, dazu gurgelnde Geräusche, ertrinkt da jemand? Und schon, die Ironie dreifacher Böden des Choreografen lässt grinsend grüßen, in einer genialen Soundtrack-Collage von Dmitry Cheglakov, Schlagerkitsch vom Feinsten von 1956, „Was kann schöner sein“, Lys Assia hieß die Sängerin, die vor drei Jahren verstorben ist mit 94 Jahren, zu Hause, in der Schweiz. So alt ist er nicht, aber als hätte er mehr noch, nämlich die ganze Geschichte des Mordshotels im Hinterkopf, lässt der Tänzer Dustin Klein als Lobby-Boy mit so sonderbarem, leichtem Grinsen, seinen Wischmob ins Wasser platschen. Oder plätschert da doch noch etwas anderes? Wie war das denn mit dem letzten Fall in diesem Hotel? Noch gar nicht so lange her, vor gerade mal acht Jahren, verschwand die Studentin Elisa Lamb. Letztmals gesehen, das zeigen Videos, im Fahrstuhl, verstört, verängstigt auch, sogar verfolgt? Dann fand man sie tot, ertrunken auf dem Dach des Hotels, in einem der riesigen Wasserbehälter für die Versorgung in allen Zimmern und Stockwerken. Da soll es dann aber zu der Zeit auch nur rieselnd geplätschert haben, von komischen Gerüchen war auch die Rede, jedenfalls bei Netflix.
Im Münchner Kriminalballett tanzt Séverine Ferrolier, mitunter sogar in sechsfacher Spiegelung ihrer Doubles diese Elisa. Eine junge Frau auf der Flucht, Kaydanovskiy gibt ihr tänzerische Bewegungen, auch in den Szenen im Fahrstuhl, lichttechnisch rasant immer wieder aufleuchtend im Traumbühnenbild der Realitätscollagen von Karoline Hogel, die verstören und mitfühlend berühren. Zumal der Tanz hier auch bedächtige, zärtliche Momente aus Erinnerung und Abschied ikonographischer Motive zu Stein gewordener Totentänze zu Momenten des Lebens erweckt.
Und er geht nicht aus dem Kopf, dieser Schlager, „Was kann schöner sein?“ Als der vor 65 Jahren die deutschen Nachkriegsherzen in West und Ost höher schlagen ließ, da hatten sich im Cecil Hotel schon etliche Dinge zugetragen, die der Grund dafür waren, dass manche Herzen eben nicht mehr schlugen. Wie es wirklich um Elisabeth Short, die „Schwarze Dahlie“ stand ist nie geklärt worden. Carolina Bastos tanzt jetzt erinnernd als Betty durch die Lobby des Hotels, wo eben diese „Schwarze Dahlie“ noch an der Bar gesehen wurde, bevor sie im Jahre 1947 verschwand. Für immer. Für immer setzte auch 1962 Pauline Otton ihrem Leben ein Ende, sie stürzte sich aus dem Fenster dieses Hotels. Im Ballett stürzt sich Robin Strona als Selbstmörder aus dem Fenster. Auf tragikomische Weise tanzt sich Strona durch einen Schlingerkurs seiner Emotionen auf der Suche nach sich selbst und vermag es eben einfach nicht, mindestens zwei Identitäten seines Daseins, die ihn tänzerisch ins Schlingern bringen, in annehmbaren Einklang zu bringen. Ihm war das Glück in diesem Hotel als Fluchtpunkt seines Lebenstanzes mit den Strapsen nicht eben hold. Und was wäre ein Ballett, natürlich auch ein Kriminalballett, ohne den Tanz der Paare, ohne die Kunst des Pas de deux. Nein, auch wenn Motive irgendwie alles beschönigender Schlagerversprechen immer wieder anklingen, einen „Kriminal-Tango“ - auch ein Schlager zu Beginn der 69er Jahre des letzten Jahrhunderts - gibt es nicht.
Aber diesen Pas de deux, hier ganz dem Ort entsprechend, mit einer Leiche, den gibt es, und den behält man im Gedächtnis. Unentschlossen, Lachen, Heulen, oder doch lieber Lachen, als Fluchtversuch aus diesem Mordshotel wo auch die Tänzerin Ksenia Ryzhkova als Prostituierte ihr Leben lassen muss. Der Mord ist das Eine, aber eine Leiche verschwinden zu lassen das andere, und da hat nun Jonah Cook, dessen ursprünglich fast weißer Anzug blutverschmiert ist, so seine Mühe. Jonah Cook ist in diesem Ballett der Frauenmörder Jack, 1991 gingen hier nachweislich drei Morde auf sein Konto. Jack Unterweger kam aus Österreich, deshalb auch der Mörder vom Wienerwald genannt, da könnten nämlich auch noch einige seines Mordskontos Leichen im Unterholz gefunden werden. Jonah Cook gibt gerade im Umgang mit den Folgen seiner Taten, also mit den Leichen, eine regelrecht tragikomische Figur ab. Und da ist es wieder, dieses hintersinnige Wackeln des choreografischen kleinen Fingers:Hat man etwa mehr Mitgefühl, Interesse ja sowieso, mit dem Mörder als mit seinem Opfer? Nein, nein Kaydanovskiy ist kein Moralapostel, aber er gibt dem Tanz eben genau jene Kraft der Assoziationen, die dieser Kunst eigen ist, klar kommen müssen wir damit, zu Hause am Bildschirm.
Auch damit, dass offensichtlich der Tänzer Jinhao Zhang als Richard, der als Richard Ramirez in den 80er Jahren im 14. Stockwerk 14 Morde verübte und mindestens 11 Frauen vergewaltigte, nach jeder seiner Taten sich ein Tattoo der Erinnerung auf die Haut stechen ließ, hier mit fast dunkelblauem Oberkörper tanzt. Kann Humor grausiger sein? Nach jedem Todesstich ein Stich ins Blaue auf die eigene Haut. Und dann, beinahe slapstickartig seine Tanzkapriolen, wenn er die Leichen in den Teppich rollt und als schwere Last seiner Tat durch die Lobby schleppt.
Und immer noch sorgt Dustin Klein als Lobbyboy für Sauberkeit, da plätschert es wieder, geht´s wieder los, der Tanz auf dem mörderischen Leichenkarussell? Aber komisch, jetzt plätschert es ganz „normal“, läuft da nicht - ganz wie es im Hotel üblich ist - das Wasser aus der Dusche in die Badewanne? Und sind das nicht auch Mörder, Selbstmörder und Gemordete, die hier zusehen, wie es plätschert und keinen Gedanken mehr daran verschwenden, was oder wer da alles noch so schwimmen könnte, im Wassertank, auf dem Dach des Hotels? Und in der Wanne, alles Unfall oder was? Oder besser, alles Zufall, weiter nichts?Oder sorgt dann letztlich doch der lächelnde Lobbyboy mit seinem Wischmob dafür, dass sich in einem echten Mordshotel jede Spur beseitigen lässt? Auf jeden Fall ist wieder mindestens ein Zimmer frei geworden.
Dieses kurze Kriminalballett von Andrey Kaydanovskiy in so wunderbar konstruktiver Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Richard Schmetterer macht ja auch nicht zuletzt den Vorhang auf für gänzlich neue Themen, Sicht- und Tanzweisen des zeitgenössischen Balletts. Und wie es begann geht´s auch zu Ende: Was kann schöner sein?
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