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Das Staatstheater Nürnberg bekommt ab der Spielzeit 2025/26 einen neuen Ballettdirektor
von Susanne Roth
Immer mal wieder zeigt die Kamera das „schwarze Loch“ des publikumslosen Saals. Dieser wirkt wie eine Tulpe, deren abgefallene Blüten den nackten, schwarzen Blütenstempel freigeben. Mit der nun erstmals rein digitalen Version des seit 2011 existierenden Choreografie-Projekts „Exquisite Corpse“ scheint ebenfalls ein Herausschälen des Kerns, ein Weglassen von äußeren Reizen während einer Aufführung einherzugehen.
Die Türen des Opernsaals öffnen sich
Es ist, als ob Ballettdirektor Goyo Montero den Mitgliedern der Ballettkompanie, den mehr oder weniger mit Choreografie-Wassern gewaschenen Ensemblemitgliedern des Staatstheaters Nürnberg als Ausgleich zu fehlenden Augenpaaren und Applaus spendenden Händen einen besonderen Motivationsschub geschaffen hätte. Indem er ihnen ein Ausloten ihrer Möglichkeiten nicht im üblichen, deutlich begrenzteren Auftrittsraum ermöglicht, sondern ihnen die Tür zur großen, ausladenden Opernbühne aufstößt. Auch deshalb heißt die Plattform, auf der elf Kompanie-Mitglieder mit eigenen, von Vorgaben freien Choreografien teilweise auch ihr eigenes Inneres nach außen kehren auch „Exquisite Corpse Extra“.
Der Funke springt auch virtuell über
Man sagt dem Ballett, dem Theater allgemein oft nach, in seiner eigenen Welt zu leben, in einer Art Blase. Das ist längst nicht mehr so. Einflüsse der äußeren Welt werden nicht künstlich draußen gehalten, das Publikum selbst sieht sich gerade auch im Ballett mit der eher pantomimischen Übersetzung von Bewusstseinszuständen gespiegelt. Das ist der Anspruch. In Zeiten einer Pandemie den Funken überspringen zu lassen, ohne das Gegenüber und dessen Erschrecken, Freuen, dessen Spannung zu spüren ist ungleich schwerer. Wirken deshalb die elf sogenannten Miniaturen von 13 jungen Choreografinnen und Choreografen teils auch wie Seelen-Striptease? Vielleicht. Sicher ist: Die publikumslose Zeit, der Lockdown, Distanz, Fehlen jeglicher Annäherung geht auch am Nürnberger Ballett-Ensemble nicht spurlos vorüber, schlägt sich nieder in den jeweils nur wenige Minuten dauernden, dafür umso eindringlicheren Miniaturen.
Elf Miniaturen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und denen doch eine Eindringlichkeit, ein faszinierendes Ausloten der Möglichkeiten gemein ist. Es sind Solo-Choreografie-Arbeiten, mit einer einzigen Ausnahme, die sich auch in ihrer Vielseitigkeit und den Stilmitteln verdreifacht zu haben scheint: Es ist vom Prinzip her Tanztheater, was der US-Amerikaner Michael García, der Belgier Victor Ketelslegers und die Portugiesin Ana Tavares in „You know, it´s like...“ nach intensiven Gesprächen dem virtuellen Publikum bieten. Es ist auch im Finale ein Experiment, da die Choreograf*innen selbst tanzen und so eine Art Vogelblick auf ihr Projekt entfällt. Dabei drehen sie den Spieß (der Hilflosigkeit) um, entscheiden selbst, ob sie aus ihrem Versteck hinter dem Tisch hervorkommen. Der Drang des Menschen, sich und seine Umwelt definieren zu wollen manifestiert sich in Wänden etwa – die dann kippen und den „Forschergeist“ freigeben.
Meist ohne großes Licht und Requisiten
Die Meisten arbeiten ohne Requisiten, alle ohne das ganz große Licht oder gar „Staffage“. Nichts stört die Darbietung großer Gefühle. Eine einzige, um sich kreisende, sich schlängelnde, hämmernde, teils ekstatisch den Raum einnehmend, teils vorsichtig in sich verharrende Tänzerin reicht aus, um der Bösartigkeit in „Vicious“ von Bo Jacobs die Stirn zu bieten. Balkone verlassen, Fenster aufstoßen, mit weiten, ausholenden Gesten einander suchend und doch jeder dazu verdammt, in seinem eigenen Lichtkegel zu bleiben, mit dem begrenzten frühlingshaften Rausch: Das ist „Day 100“ der harten Isolation von Oscar Alonso. Wenn sie denn wieder loslassen, dann muss man sich die Frage stellen, ob man in der gleichförmigen (Trenchcoat-)Masse untergeht oder ob noch ein Stück Individualität erlaubt ist. Nicht unbedingt, die Tänzerin im „eigenartig sterblichen“ Miniatur-Stück „Peculiar Mortals“ von Sofie Vervaecke wirft zwar die Trenchcoat-Uniform ab, was allerdings in der Gruppe gar nicht gut ankommt.
Es kommt noch härter: Der eigenen, misshandelten Mutter bietet Edward Nunes mit „Maria“ und seinen angedeuteten Schlägen ins Gesicht und Pistolen an die Schläfen setzenden Tänzerinnen eine Art verständnisvoller Trost.
Um was es bei all den Choreografien geht zeigt Carlos Blanco mit „Me Inside Me“ besonders eindrucksvoll. „Wie etwas erklären, was für mich selbstverständlich ist, was aus mir selbst kommt? Für das ich nicht die richtigen Worte finde? Wer bin ich? Was bedeutet meine eigene Kreation?“ – ein schier undurchdringlicher Fragen-Dschungel, durch den sich Carlos Blanco schlägt. Erfolgreich. Mit ungewöhnlichen Körperszenen, in denen sich erst nur ein einzelnes Bein zu befreien sucht, einem Küken gleich, das mühsam den Schnabel durch die Schale bohrt.
Die Miniaturen in „Exquisite Corpse Extra“ gleichen einem Damm, der bricht und Wassermassen von unendlich scheinenden Bewegungsformen, Ausdruckstänzen, Kulturen und Mentalitäten vor die Füße der Betrachter*innen spült. Besonders eindrucksvoll wird das angesichts der Sprünge und erotischen Bewegungen der bastrocktragenden Tänzerinnen in „Matumaini“ von Sarah-Lee Chapmann, was auf Suaheli Hoffnung heißt. Wurde ja auch Zeit für einen Hoffnungsschimmer.
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